Anna Mayilian, soprano

Anna Mayillian: Wenn ich singe, bin ich mit Gott

Ein Porträt der armenischen Sängerin Anna Mayillian, entstanden im persönlichen Gespräch mit Cornelie Müller-Gödecke im Juni 2000.

Dieses Interview wurde im August 2000 zuerst veröffentlicht in der Deutsch-Armenischen Korrespondenz der Deutsch-Armenischen Gesellschaft

"Musik und Spiritualität gehören zusammen", sagt Anna Mayilian, eine Sopranistin, die sich mit aller Kraft für die Musiktradition des Sharakan, der 1500 Jahre alten armenischen Kirchenmusik, einsetzt.

"Wenn ich singe, bin ich mit Gott und Gott ist mit mir. Er gibt mir Kraft und mein Gesang soll den Menschen Kraft geben."

Im Juni 2000 weilte die junge Sängerin in Europa. Die Sopranistin war Gast der Musik-Akademie Villecroze in Frankreich und sie nahm teil am Schumann-Wettbewerb in Zwickau. Für kurze Zeit kam sie auch nach Hamburg, um die musikalische Zusammenarbeit mit Heinz-Erich Gödecke zu vertiefen und gemeinsame Projekte zu planen.

Ihre Karriere begann nach einer Ausbildung am Romanos Melikyan Music College in Armenien und nach dem Studium am Staatlichen Erewaner Konservatorium: sie unternahm Konzertreisen nach Frankreich und Deutschland, studierte an der Europäischen Mozart-Akademie und nahm an vielen Festivals teil.

Ihr Repertoire umfaßt armenische, europäische, amerikanische und russische Musik, Lieder, Oper, Oratorien, aber ihre Schwerpunkt liegen bei dem europäischen Kunstlied und armenischer religiöser Musik.

Mit Meisterschaft beherrscht sie das klassische Repertoire des europäischen Kunstliedes, armenische kirchliche Musik und armenische Volksmusik.

Schon während ihrer Ausbildung hatte sie den Wunsch, in Kirchen a capella zu singen, aber dieser Wunsch erfüllte sich nicht sofort. Es dauerte einige Jahre, bis sie die Möglichkeit bekam, in einer Kirche in Erevan beim Gottesdienst zu singen.

Anna Mayilian widmet sich dem Sharakan und arbeitet zusammen mit der Musikwissenschaftlerin Arousiak Sahakian intensiv an dessen Gesangstechniken, die sich vom klassischen Stil, den sie in ihrer Ausbildung gelernt hat, doch sehr unterscheiden. Aber ihr ist nicht nur die technische Virtuosität wichtig, diese Musik ist Teil ihrer Identität, religiöser Glaube und Musikalität bilden eine Einheit und ein unangefochtenes Verhältnis zu Tradition und Religion ist die Voraussetzung für die unmittelbare Beseeltheit ihres Singens.

Movses Khorenatsi, Historiker und Komponist aus dem 5. Jahrhundert, Grigor Narekatsi im 10. Jahrhundert und Nerses Schnorhali im 12. Jahrhundert schrieben großartige Musik, deren Notationen bis in die Gegenwart überdauerten. Komitas Vardapet (1869 - 1935) vereinte dann die Kirchenmusik und die Volksmusik.

In dieser Tradition steht der Sharakan, der seit dem 4. Jahrhundert überliefert ist und der vorchristliche epische Lieder mit christlichen Texten zu Hymnen zusammenbringt, vergleichbar den gregorianischen Lauden aus dem spätmittelalterlichen Italien.

Religiösität bedeutet hier nicht nur, daß die Musik kirchlich geprägt ist und nur kirchliche Inhalte hat, der Glaube und die Liebe zu Armenien bilden eine Einheit, die armenische Identität ist geformt durch den ungebrochenen Glauben an Gott und die Liebe zu Armenien und die armenische Kultur.

In Anna Mayillians Gesang finden Tradition, Religion, persönliche Überzeugung und natürliche Lebensfreude in einer selbstverständlichen, ungebrochenen Klarheit zueinander, die uns Mitteleuropäern fast unlebbar, unvorstellbar erscheint.

Diese Sicherheit läßt sie auch Experimente eingehen, die sie nicht nur um des Effektes willen unternimmt: als sie in einem Stadion zusammen mit einer Rockband auftrat, war das nicht als Anbiederung, Effekthascherei gemeint, denn sie suchte einen Weg, den jungen Menschen, die dort versammelt waren, etwas zu geben. Und das gelang, sie erreichte die Menschen. Dazu sagt sie selbst, "das hat mir gezeigt, daß die armenische religiöse Musik eben auch modern ist, der Klang ist weit und modern, vielleicht wegen der Improvisation, alte Texte und moderner Klang, diese Musik stammt nicht nur aus dem 5. oder 10. Jahrhundert, es ist Musik für jede Zeit, zeitlos..."

Nach 70 Jahren sowjetischer Herrschaft sei heute in Armenien ein wachsendes Interesse an der eigenen Kultur und Musik spürbar, auch wenn die westliche Popkultur immer mehr Menschen erreiche. Anna Mayillian erzählt, wie sie immer wieder auf junge Menschen trifft, die von ihrem Gesang berührt werden und die mehr darüber erfahren möchten.
Deshalb betreute sie auch für einige Zeit ein eigenes Radioprogramm, in dem sie ihren Landsleuten die armenische Kultur und Musikgeschichte nahebrachte. Dieses Programm ist zur Zeit ausgesetzt, denn sie meint, für diese Arbeit reiche ihr Wissen noch nicht, das Musikmaterial reiche nicht aus, aber das werde noch kommen.

Anna Mayillian sagt von sich, daß sie durch ihren Gesang den Menschen etwas geben möchte, sie glücklich und bewußt machen möchte, und das geschähe auch manchmal.

"Ich versuche, wenn ich singe, nicht nur mit dem Himmel zu sein, sondern auch sehr auf der Erde und ich möchte deutlich machen, daß es auch ein anderes Leben gibt. Das ist nicht einfach, aber manchmal geschieht es: so kam einmal ein Mann nach einem Konzert auf mich zu und sagte mir, daß er absoluter Atheist sei, aber nun müsse er sich wohl ändern... "

Sie sagt weiter: "Diese Musik zu singen ist nicht einfach: man muß sich mit Gott verbunden fühlen, diese Verbindung muß durch Gebet da sein, Sharakan ist nicht nur eine professionelle Musik, Sharakan gibt eine besondere energetische Verbindung zu Gott und auf der Bühne spüre ich oft dieses Kreuz zwischen dem Himmel und dem Publikum. Mir ist es sehr wichtig, diese Energie dem Publikum zu vermitteln."

Nach ihren Worten stammt diese Musik aus einer Zeit, in der die Menschen Gott näher waren als wir es heute sind, aber auch heute entstehe diese Musik wieder, z.B. in den Kompositionen Avet Terterians, der diesen Weg gefunden habe.

"Hovhannes Sarkavag, der Philosoph und Musiker aus dem 12. Jahrhundert hat gelehrt, daß wir uns nach der Natur (Natur als universelles Sein) richten müssen, die Natur sei unser Lehrmeister, und Avet Terterian war diesem Gedanken sehr nahe, er lebte in der Natur, er horchte auf jeden Ton, wir finden in seiner Musik alles: Wind, Meer, Himmel, Sterne und viele andere Klänge, Steine, Menschenstimmen, sehr intensiv und sehr natürlich, das macht mich sehr glücklich, nichts ist überflüssig, alles hat seinen Platz ...
 
Terterians Musik ist nicht für jedermann zugänglich, man muß für diese Musik bereit sein, innerlich bereit sein, aber diese Musik ist doch für jedermann geschaffen, denn sie gibt uns so viel Energie, sehr gute Energie... "

Armenische Musik wird inzwischen auch im Westen immer mehr wahrgenommen, Peter Gabriel 'entdeckte' Djivan Gasparyan für Amerika und Mitteleuropa und die armenische Duduk für die Weltmusik, Stefan Micus studiert die armenische Musiktradition, da liegt es auf der Hand, Anna Mayillian mit den Sängerinnen der Weltmusik, wie Sainkho Namchylak aus Tuva, Stepanida Borisova aus Jakutien, Yungchen Lamo aus Tibet in eine Reihe zu stellen, aber so einfach ist das nicht.

Denn gerade die letztgenannten Sängerinnen, die bei uns im Westen als 'authentische Stimmen ihrer Heimat' gelten, brechen doch mit ihrer Arbeit die Traditionen ihrer Musikkultur, übernehmen die den Männern vorbehaltenen Gesangstechniken und erarbeiten sich einen eigenen Stil, der in ihren jeweiligen Heimatländern, Kulturbereichen nicht immer akzeptiert wird.

Anna Mayillian sieht ihr Ziel nicht in der oftmals zu leicht 'integrierenden' und nivellierenden Weltmusik, sie ist sich der besonderen Schönheit der armenischen Musik und ihrer Aufgabe bewußt:

"Ich tue nur, was ich tun muß und ich habe das Gefühl, das ist meine Aufgabe, ich muß unsere spirituelle Musik singen.

Wir sind wie eine Kirche und so müssen wir in der Kirche und mit der Kirche leben. Und wenn ich auf der Bühne geistliche Musik singe, dann muß das auch zur Kirche werden, dann bin das nicht nur ich die singt, mein Körper hilft mir, den Geist hervorzubringen.

Volksmusik und Religiöse Musik sind sich sehr nah und doch entfernt, es ist sehr wichtig, nicht nur die Schönheit zu zeigen, das wäre nur eine Vorführung, es ist wichtig, Seele zu geben, die Menschen glücklich und auch wiederum nicht glücklich zu machen, die Menschen empfinden zu lassen, Empfindung ist sehr wichtig für die armenische Musik, manchmal muß man weinen, wenn man dieser Musik zuhört, zuerst kommt das Empfinden, es ist gar keine Musik, die Seele spricht, Gott spricht, ich weiß nicht, ob ich es richtig erklären kann..."