Franz Martin Olbrisch

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Auf den Wellen eines Meeres von Beziehungen
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Programmheftbeitrag
für die Aufführung bei der ICMC 2000 in Berlin
von Franz Martin Olbrisch

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Auf den Wellen eines Meeres von Beziehungen
entstand in der Auseinandersetzung mit den Ideen des Radikalen Konstruktivismus und der Systemtheorie. Es bezieht den Beobachter bzw. Hörer in das Werk mit ein. Tuba und Tonband sind nicht alleiniger Gegenstand der Musik. Erst durch den Rezipienten entsteht das, was das Werk ausmacht. Selbstverständlich ist es der Wille des Komponisten, der bestimmt was entstehen kann und was nicht. Aber gerade hier beginnt jene Öffnung für das Unvorhersehbare, welche dem Werk seinen eigenen Charakter verleiht. Der Rezipient ist auf sich selbst verwiesen, nicht als vereinzeltes Subjekt, aber als Summe, als Gruppe aller, die auf das reagieren, was sie im Moment wahrnehmen.

Das Tonband bildet den Bezugspunkt. Im Detail wirkt es zerfahren und unruhig, im Gesamten aber eher statisch und unveränderlich. In seiner spezifischen Klanglichkeit spiegelt es jene Bezüge und Abläufe wieder, welche auch für die Tuba maßgebend wären, würde diese nicht auf das Auditorium reagieren. Es ist die eingefrorene Tubastimme mit konkreten Klängen. Aber es besteht nicht nur aus einer Art musique concrète, es ist eher wie eine Reihe kleiner und kleinster Fenster, welche den Blick in ein nur scheinbar ausgeblendetes Umfeld öffnen, oder eher noch wie ein gebrochener Spiegel, welcher in seinen Einzelteilen die Umwelt als Diskontinuum wiedergibt.

Vor diesem Hintergrund agiert die Tuba mit dem Zuhörer. Zwei Algorithmen, ein hoch chaotischer Formel und ein überwiegend stabilisierender Formel generieren wechselseitig die Noten der Tuba. Die Ruhe bzw. die Unruhe des Publikums bestimmt über den Wert "a" in den Algorithmen, d. h., je konzentrierter das Publikum, um so ruhiger wird das Spiel der Tuba, und umgekehrt, je unruhiger das Publikum, um so bewegter das Tubaspiel. Das alles geschieht nicht sofort, beide Algorithmen entwickeln ihre Tendenzen erst im Laufe der Zeit. Hinzu kommt die Interpretation der Werte, welche für sich genommen keinen musikalischen Sinn ergeben.

Für den Spieler bedeutet diese Aufführungssituation eine extreme Herausforderung. Auf der einen Seite ist es für Ihn unmöglich das Werk im Voraus einzustudieren, auf der anderen Seite ist er aber an die Partitur gebunden und kann sich daher auch nicht in bewährte Improvisationsmuster zurückziehen.

Dieses Werk ist eine Herausforderung, für den Spieler, weil er sich auf Glatteis bewegt, für den Komponisten, weil er seine Kontrolle zu einem gewissen Teil lockert und damit der Willkür Einlaß gewährt und für den Rezipienten, weil er weder davon ausgehen kann, daß er sich einem bewußt geformten Gestaltungswille gegenüber sieht, noch, daß er einen Anderen für die Gebilde seiner Wahrnehmung allein verantwortlich machen kann. Darin liegt aber der Reiz dieses Werkes. Die erklingende Musik ist von keinem der Anwesenden allein zu verantworten, die Konstrukte der Wahrnehmung aber - also jene Summe aus Sinneseindrücken, Erwartungen und Handlungen, die jeder für sich vollzieht - können für einen Moment aus den Gräben der eingeschliffenen Verhaltenskodizes hervorblinken und in die Wahrnehmung hineinragen. Darin allein liegt, wenn es gelingt, der Reiz dieses Projektes, alles Andere ist Beiwerk.

F.M.O.

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