Bein stellen beim Lesen

wie man sich beim Lesen selbst ein Bein stellen kann…

Vladimir Sorokin

Nun, da habe ich den 600seitigen Roman „Roman“ von Vladimir Sorokin, einem Schriftsteller, der dafür bekannt ist, daß er hart zur Sache geht, nicht zimperlich mit dem Leser umgeht…

Ich wundere mich, 150 Seiten lang spaziert ein Maler, der aus der Stadt, wo er als Jurist tätig war, in das Dorf seiner Jugend zurückgekehrt ist, um dort für den Rest des Lebens nur noch zu malen, in dieser Idylle herum. Er lebt bei Onkel und Tante, feiert das Osterfest mit dem Popen und besucht den philanthropischen Dorflehrer und den misanthropischen Arzt, geht auf die Jagd und rudert mit dem Fischer über den See.

Ein Rußland des 19. Jahrhunderts, ein Oblomow ohne Getriebenheit und Ambitionen, da stimmt doch was nicht. Ich möchte schon Freunde in St. Petersburg anrufen, mit denen ich mich ab und an über literarische Fragen austausche…

Sorokin gehört zu den Konzeptualisten und wo ist das Konzept?

Dann begehe ich den Fehler, einen Artikel über Sorokin zu lesen und darin wird auch das Konzept des Romans enthüllt: die ersten 500 Seiten treiben auf eine Explosion zu, die ich hier nicht erwähnen möchte, die aber das gesamte Konzept des Buches verdeutlicht.

Und nun stellt sich mir die Frage: soll ich die restlichen 300 Seiten bis zu Seite 500 lesen, um dann die Überraschungen der restlichen 100 Seiten gar nicht mehr als Überraschung zu erleben?

Ich habe mich um den intendierten Schock gebracht und nun ärgere ich mich über mich und meine Neugier, bin unentschlossen, will eigentlich gar nicht weiterlesen, weil ich nun weiß, daß die Gemütlichkeit eine grausam trügerische ist,

statt der intendierten Ungewißheit, die der Leser erfahren soll, denn jeder aufmerksame Leser wird heutzutage zweifeln, wenn ihm eine so trügerische Idylle erzählt werden soll, ist nun ein Wissen um die Dramaturgie vorhanden und ich fühle mich manipuliert und betrogen.

Aber betrogen habe ich mich selbst, weil ich nicht warten konnte.

Vladimir Sorokin: Roman
Gebundene Ausgabe: 703 Seiten
Verlag: Haffmans Verlag (1995)
ISBN-10: 3251002988
ISBN-13: 978-3251002986