Winter 45

Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken Der Band Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken von Arno Surminski war der Anlaß, weitere Bücher dieses Autors zu lesen. Da ich einige Tage im Krankenhaus verbringen mußte, las ich auch Sommer vierundvierzig: Oder Wie lange fährt man von Deutschland nach Ostpreußen? und Jokehnen: Oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland? sowie Erzählungen des Autors.

In dem Roman Winter fünfundvierzig bringt Surminski zusammen, was sonst immer getrennt gesehen / erzählt wird: das Schicksal der KZ-Häftlinge, die Flucht der Bevölkerung aus Ostpreußen, das Schicksal der Menschen, die sich nicht auf die Flucht begaben, das Schicksal der Nachgeborenen. Denn dieses ist alles miteinander verwoben und aus der Trennung wächst die Verdrängung und das Leugnen.

Die klare, knappe Sprache des Autors muß ich nicht weiter beschreiben, seine Fähigkeit so zu erzählen, daß das ganze, eigentlich unsagbare Grauen wahrnehmbar wird. Es ist wichtig, aufzuzeigen, daß alle diese Geschehnisse gleichzeitig geschahen, dem gleichen System entstammen, das Schicksal der Bauersfrau und das der jungen Tänzerin aus Lodz miteinander verknüpft sind, bestimmt sind  durch  die unselige Ideologie des Nationalsozialismus.

Ich danke dem Autor dafür, daß er die KZ-Häftlinge in das Zentrum des Erzählens gerückt hat, daß er uns Leser zwingt, diese Geschehnisse wahrzunehmen.

Ich habe den Ort Palmnicken / Jantarny schon lange auf der Liste meiner Reiseziele, wollte dort seit Jahren hinreisen. Jetzt ist es mir nicht mehr möglich, nur wegen des Bernsteins dort hinzufahren. Jetzt gibt es für mich einen wichtigeren Grund: der Opfer zu gedenken. Am Strand von Palmnicken

Arno Surminski: Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Ellert & Richter (15. August 2010)
ISBN-10: 3831904219
ISBN-13: 978-3831904211

Ortstermine

„poetische Merksätze“ -das sind die Ortstermine von Felix Philipp Ingold, 116 Einzeiler und alle beginnen mit „Dort„.

Alle bis auf einen. Dort beginnt Fort.

116 Verweisungen. Knapp. Fordernd. Manche treiben zum nächsten Satz, manche zwingen zum Innehalten, drängen sich ins Gemüt, weben Assoziationen, Konnotationen, brennen sich ein.

Zu vielen dieser „Monosticha“ – Einzeiler sah ich Bilder. (Auf www.zweiterblick.de steht meine Arbeit schon eine Weile online.)

Dort! Die Wand den Schelm zu pinnen

Dort! Die Wand den Schelm zu pinnen.

Einen anderen Ansatz der Präsentation der Ortstermine nutzt Theo Leuthold. Er liest die Ortstermine typografisch.
Jeder Satz auf einem Karton, 4 cm hoch, 40 cm breit.

Dort! Die Wand den Schelm zu pinnen

Diese Arbeit drängt mir eine ungewohne Art des Lesens auf:
Ich benötige einen freien Tisch, auf dem ich die Streifen ausbreite.
Das Auswählen der Streifen geschieht zufällig, wie ein Karten-Ziehen. Es gibt kein Inhaltsverzeichnis, keine chronologische Folge, einmal durchgeschaut ist die Ordnung der Seiten gemischt.
Der Bestimmtheit der Zeilen widersteht das Spielerische der Auswahl, der Präsentation.
So leicht blättert es sich dann nicht.

Schuber: 116 Monosticha

Ortstermine
Felix Philipp Ingold (Text), Theo Leuthold (Typografie)
116 Monosticha
in einem Kartonschieber
4 x 4 x 40 cm
50 signierte und nummerierte Exemplare
2010, Theo Leuthold Press, Zürich
ISBN 978-3-906690-06-3
SFR 170.– / € 117.–
Bestellung und Auslieferung:
Theo Leuthold Press, Zürich: atelier@theoleuthold.ch
Edition Howeg, Zürich: edition_howeg@datacomm.ch

Weitere Infos: Ortstermine_Karte A6

Alle glücklichen Familien gleichen einander,

jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.
Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему.

So begann Leo Tolstoi seinen Roman Anna Karenina. Und dieser Satz prägte sich mir ein. Derart, daß ich in meiner ersten Photo-Ausstellung Der Zweite Blick 2000 in St. Petersburg diesen Satz mit dem nachstehenden Bild verquickte.

Alle glücklichen Familien

Dieser Satz ist Teil meines Gedanken-Fundus. Immer wieder blitzt er auf.
Und viele Erinnerungen knüpfen sich an diesen Satz.

So hörte ich einmal bei einer Busfahrt, wie ein wohl 13jähriges Mädchen ihren Freundinnen verwundert diesen Satz vorlas. Sie hatte ihn in einem Kalender gefunden.  Wohl keine hatte den Sinn sogleich verstanden, nicht erfaßt, warum eine solche Aussage in einem Kalender stünde. Ich mischte mich ein und erzählte ihnen, daß dies der Beginn eines ganz großartigen Romans sei, von einem russischen Schriftsteller, und daß sie es unbedingt lesen müssten, dieses Buch sei für jede junge Frau wichtig.

In dem leise-melancholischem Film „Die Eleganz der Madame Michel“ kommen sich die Concierge und der neue, begüterte Wohnungseigentümer, ein Japaner aus einer ganz fremden Kultur, einander näher, da die Concierge diesen Satz brummelnd von sich gibt. Dadurch ändert sich ihr und sein Leben.

Es gibt viele solcher Begegnungen mit diesem Satz, gehört er doch zu den meistzitierten (schauen Sie nur mal bei Google nach).

Ich erinnere mich, daß ich bei der Lektüre des Romans nie richtig sicher war, ob Wronski Anna wirklich liebe. Diese Frage trieb mich so um, daß ich mehrere Freundinnen fragte:

то, что ты подразумеваешь, действительно любит Вронский Анну?
Was meinst du, liebt Wronski Anna wirklich?

Auch dieser Satz wurde zu einem geflügelten Wort, wenn auch nur in meinem Bekanntenkreis.

Matthias Wegehaupt: Die Insel

Matthias Wegehaupt: Die Inselzu meiner großen Freude fand ich gestern beim Besuch „meines“ Buchladens, Bücher-Christiansen in Ottensen, um das Werk von Judith Zander, Dinge, die wir heute sagten, abzuholen, bei den Taschenbüchern „Die Insel“ von Matthias Wegehaupt.

Letztes Jahr war dieses Buch das Buch des Sommers für mich gewesen,  [link2post id=“264″]ich hatte es damals beim Resteverwerter Jokers gefunden [/link2post] und immer wieder im Gespräch mit anderen Lesern die Verwunderung geäußert. warum dieses Buch nicht wieder aufgelegt wird. Angesichts der astronomischen Preise, welche für gebrauchte Exemplare gefordert wurden (zeitweise bis zu180,00 € bei ZVAB) war ich mir sicher, daß eine Neuauflage ihre Leser finden würde. Und ich konnte das Buch gar nicht so oft verleihen, wie es angefragt wurde (wollte ich auch nicht…)

Dieses Buch gehört für mich zu den unmittelbarsten literarischen Zeugnissen der DDR-Zeit in der „Nach-Wende-Literatur“, besteht jeden Vergleich mit dem Turm, und ist nun endlich wieder erhältlich, bei LIST, als Taschenbuch.

Matthias Wegehaupt: Die Insel: Roman
Broschiert: 1013 Seiten
Verlag: List Tb. (1. Oktober 2010)
ISBN-10: 3548610137
ISBN-13: 978-3548610139

Still, aber nicht ruhig

Monika MaronDas Buch von Monika Maron ist das erste dieser Autorin, das ich lese. Und das bedauere ich. Ich werde weitere Bücher von ihr suchen.

Sie schildert eine Frau, die in der DDR, welche mir so regelhaft und engstarrig erscheint wie nur möglich, ihren Beruf aufgibt und entscheidet, daß sie nie wieder für Geld ihren Kopf benutzen will.

Diese Frau schreibt auf, was ihr ein alter DDR-Apparatschik diktiert und immer schwächer wird ihr Widerstand. Sie kann sich nicht abschotten gegen die Selbstgerechtigkeit dieses alten Mannes. Sie verabscheut ihn und sie sagt ihm das auch.

Dann stirbt der Mann.

Der Frau geht es nicht besser, sie fühlt sich nicht frei durch seinen Tod. Sie hat den Hass, den Hass auf ihren Vater und das System, in dem er mitwirkte, ihr Leben lang mit sich herumgeschleppt und nun war er ausgebrochen. Ausgelöst durch diesen alten Mann.

Das Buch gibt einen Einblick in die seelische Landschaft der DDR und gehört in die Reihe der wenigen Bücher, die sich mit der Vergangenheit und der eigenen Verstrickung in diese Vergangenheit auseinandersetzen.

Ob die Auseinandersetzung gelingt, ob sie Befreiung bringt, wer mag das beurteilen?

Wir aus dem Westen, die nicht solcherart verstrickt waren, können das sicherlich nicht. Aber wir können aus Büchern wie diesen und von Autoren wie Monika Maron, welche ja selbst auch mit dem System verstrickt ist, IM oder nicht, Vater wichtig oder nicht, wir können lernen und versuchen, Wahrnehmungen und Empfindungen anzunehmen ohne vorschnell zu urteilen.

Monika Maron: Stille Zeile Sechs. SZ-Bibliothek Band 90
Gebundene Ausgabe: 224 Seiten
Verlag: Süddeutsche Zeitung / Bibliothek; Auflage: 1., Aufl. (5. Januar 2008)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3866155409
ISBN-13: 978-3866155404

Blankow oder das Verlangen nach Heimat

Pauline de Bok
Pauline de Bok: Blankow oder das Verlangen nach Heimat

Pauline de Bok lebte ein Jahr in einem aufgelassen, verlassenen Vorwerk in  Mecklenburg.

Dieses Vorwerk zeigt noch Spuren der Vorbewohner und so untersucht die holländische Autorin die Geschichte dieses unwirtlichen Platzes.

Sie erfährt von den Menschenströmen, die zu Kriegsende dort vorbeikamen, von den Menschen, die sich hier niederließen und von der gesellschaftlichen Umgestaltung der DDR, die die aktiven Menschen vertrieb und das Vorwerk wieder verkommen läßt.

Die Traurigkeit, die über dem Ort und den Menschen liegt, vermittelt sich dem Leser, vermittelte sich mir.

Und erreichte, daß ich ein Gespür für die Last der Geschichte bekam, die über diesen Landschaften und den Menschen liegt. Über die Heimatlosigkeit und das Gebundensein an einen Ort und das Verlieren dieses Ortes.

Da ich mich durch unser Haus in Ostvorpommern immer mehr mit der Geschichte Ostdeutschlands und den Menschen, die diese Zeit erlebt haben, beschäftige, war dieses Buch eine interessante Lektüre.
Denn an meinem neuen „Ort“ habe ich noch nicht viel erfahren können. Jedenfalls nicht genug.

Pauline de Bok: Blankow: oder Das Verlangen nach Heimat
Gebundene Ausgabe: 310 Seiten
Verlag: Weissbooks; Auflage: 1 (7. September 2009)
ISBN-10: 3940888044
ISBN-13: 978-3940888044
Originaltitel: Blankow of het verlangen naar Heimat
Die Webseite der Autorin: https://www.paulinedebok.nl/

Können Bücher trösten?

Auf diese und weitere Fragen gab Michael Krüger, Verleger (Carl Hanser Verlag) und Autor, ausführlich und bereitwillig Auskunft.
In einem ZEIT-Gespräch, veröffentlicht auf https://www.zeit.de/2009/01/DOS-01-Krueger

Es ist gar nicht möglich, aufzuzählen, welche großen Namen er in dem Verlagsprogramm vereint, und am liebsten ist mir seine Edition Akzente. Nennen möchte ich aber auf jeden Fall Bruno Schulz.

Da finden wir Lyrik von Oskar Pastior und Felix Philipp Ingold, Texte zur Neuen Musik von Schnebel und auch der große Karl Schlögel mit seinem großen Werk Terror und Traum. Moskau 1937.
Er hat Josef Brodsky verlegt und Czeslaw Milosz

Michael Krüger
Michael Krüger

Dieser Michael Krüger veröffentlichte 2008 „Literatur als Lebensmittel“, Reden und Aufsätze und Beiträge über den Betrieb. Aus allen Texten ebenso wie aus dem o.g. Gespräch übernimmt der Leser eine Aufmerksamkeit und Wertschätzung der Literatur, der Autoren, der Dichter und der Freunde.

Michael Krüger ist klug und weiß viel. Er bringt Dinge zusammen, schließt Themen zu Zirkeln, öffnet Horizonte.

Solche eine Verlegerpersönlichkeit gibt es nur wenige.

Michael Krüger: Literatur als Lebensmittel
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: Sanssouci (10. September 2008)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3836301202
ISBN-13: 978-3836301206