Das dritte Buch über

nein, nicht über Achim, über Anklam. Die Stadt kommt in Mode, einerseits beim Anklam-Bashing, andererseits in der Literatur.

Mich interessiert das, denn ich bin ja nun in diese Gegend gezogen und werde auch immer wieder mit den Urteilen und Vor-Urteilen über diese Gegend konfrontiert.

Als erstes Buch kam mir Judith Zanders Buch "Dinge die wir heute sagten" unter die Augen. In meinem OVP-Blog Gribowski habe ich das Buch als provinzielles Lese-Abenteuer bezeichnet, mich beeindruckte ihre klare Sprache und ihre Gescheitheit (die sie bei einer Lesung im Greifswalder Koeppenhaus eindrücklich unter Beweis stellte).

Stark beeindruckt hat mich Uwe Timms Freitisch. Denn in dieser Novelle werden zwei Welten, Weltwahrnehmungen miteinander  konfrontiert, in denen ich selbst lebe: ein nach Anklam gezogener, ehemals westdeutscher, Lehrer trifft auf einen Studienkameraden, Investor im armen Osten. Darüber schrieb ich, ebenfalls bei Gribowski:

Uwe Timm verbindet mit dieser Novelle, deren Falke eine Mülldeponie ist, die vielleicht das Idyll des einen bedroht und den Gewinn des anderen steigern wird, mehrere Ebenen meines Lebens. Auch ich habe über die Welt diskutiert in meinem Studium, wenn auch 10 Jahre später als die beiden Protagonisten, auch ich habe mich durch Schmidts Texte gequält, habe Bargfeld aufgesucht (allerdings nach seinem Tode), und ich habe meinen Lebensmittelpunkt hier nach OVP verlegt.

Zu diesem Buch kann ich nur raten.

Judith Scharlansky: Der Hals der GiraffeNun kommt das dritte Buch über Anklam ins Spiel: Judith Scharlanskys Bildungsroman Der Hals der Giraffe. Ein zwiespältiges Buch, sehr gelehrt, sehr hermetisch. Es kreist um die innere Verfassung einer seelisch erstarrten Biologie-Lehrerin, deren Welt, wie das eben so in der Literatur und im Leben ist, zerbröckelt, dern Horizont sich aber nicht erweitert. Ich folgte etlichen Rundfunk-Interviews, bevor ich das Buch kaufte, und ich muss sagen, an den Gesprächen der klugen Autorin hatte ich mehr Freude als an dem Buch selbst. MIr erscheint die Protagonistin doch etwas zu erstarrt.
Und ich frage mich, ob das Buch ebensolch Anklang gefunden hätte, spielte es nicht in Anklam sondern meinetwegen in Butzbach? Der Feuilleton ist ja nunmal, wie wir wissen, sehr ostnegativ gepolt ;=)

Judith Zander:
Dinge, die wir heute sagten: Roman
Taschenbuch: 480 Seiten
ISBN-10: 3423247940
Uwe Timm: Freitisch
Novelle
Gebundene Ausgabe: 135 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch;
ISBN-10: 3462043188
ISBN-13: 978-3462043181
Judith Scharlansky:
Der Hals der Giraffe.
Bildungsroman
Verlag: Suhrkamp Verlag;
Auflage: 6 (12. September 2011)
ISBN-10: 3518421778
ISBN-13: 978-3518421772

Ein langgesuchtes Märchenbuch

Illustration von Adrienne Segur

habe ich endlich gefunden. Ich hatte eine vage Erinnerung an ein großformatiges Märchenbuch, mit wunderschönen ganzseitigen Bildern, das Wort Tiermärchen kam im Titel vor.

Ich meinte, der Titel sei "Russische Tiermärchen" gewesen und über 10 Jahre habe ich nach diesem Buch gesucht. In der Verwandtschaft fand es sich nicht, obwohl fast alle Bücher ja weiterwanderten, der Bruder hatte es nicht und konnte sich auch nicht erinnern.
Da ich glaubte, es von einer Großtante aus der DDR geschenkt bekommen zu haben, fragte ich alle Bekannten aus der ehemaligen DDR danach, ich fragte in Russland meine Freunde, aber niemand kannte es.

Und dann fand ich Knaurs Tiermärchen. Mit Märchen der Gebrüder Grimm, Hans Christian Andersen, japanischen und eben auch russischen Märchen.

Und mit den wunderschönen Illustrationen der französischen Künstlerin Adrienne Ségur.

Das war mein Buch! Nun habe ich es mir für sehr viel Geld antiquarisch gekauft und bin richtig glücklich. Es ist aufregend, die Illustrationen mit der eigenen Erinnerung zu konfrontieren. Welche Bilder erscheinen mir komplett neu, welche erkenne ich wieder, welche waren "immer da", sind aber doch ganz anders…

Ich hätte nur eines nicht tun dürfen:

Nachdem ich den tatsächlichen Titel gefunden hatte und den Namen der Illustratorin kannte, fand ich im Web ganze Bildergalerien mit ihren Ilustrationen. Das nahm mir doch ein wenig die Freude beim ersten Durchschauen des Buches, ich habe mich selbst um einige Überraschungen und um Wiedererkennensfreude gebracht. Das geschieht halt in der Ungeduld.

Tristram Shandy, Gentleman

Ich bin immer noch nicht durch. Das liegt daran, daß ich den größten Teil des Buches vorlese.
So haben mein Mann und ich den größten Spaß daran.
Aber mehr als ein, zwei Kapitel kann man nicht auf einmal vorlesen. Das Vorgelesene muss ja auch goutiert werden.

Inzwischen ist der Protagonist aber wenigstens geboren, wenn auch mit lädierter Nase.

Nasenkorrektur

Ab und an gibt es Zwischenlektüren, so der OstvorPommern-Krimi „Letzte Losung“, der es nur in mein Ostvorpommern-Blog Gribowski geschafft hat. Es gibt halt Bücher, die liest man und dann ist auch gut. Dieses Buch ist nun auf Wanderschaft, wers mag, kanns behalten.

Ganz anders war dagegen „Freitisch“ von Uwe Timm zu lesen. Auch dies spielt in OVP, aber es hat Tiefe. Es hat was mit uns zu tun, und kaut uns nichts vor. Die Besprechung dieses Bandes auch auf Gribowski.

 Aber eigentlich warte ich auf Alias oder das wahre Leben, das neue Buch von Felix Philipp Ingold.

Die Lesesperre scheint überwunden

Urs Widmer, Das Buch des VatersAußer den wenigen, bisher in diesem Jahr besprochenen Büchern hab ich immer wieder Bücher angefangen und beiseite gelegt. Ein Buch, das hier  nicht gelistet ist, ist mir in Erinnerung geblieben: Das Buch des Vaters, von Urs Widmer.

Ein ganz ungewöhnliches, nachgängiges Buch, das die Lebensspanne des Vaters nacherzählt, mit den eigenwilligen Ritualen seiner Bergheimat bis zu den Freigeistereien der 20er und 30er Jahre, Alpenleben und Bauhaus, und vieles mehr.

Dann war lange Funkstille. Ich konnte einfach nicht lesen. Ich wünschte mir zu lesen, konnte aber nicht und wollte nicht lesen was mir zwischen die Finger kam.

Also legte ich immer wieder beiseite.

Dann habe ich mir aus Neugier einen Kindle gekauft. Und mit Büchern beladen, die ich schon eh mal lesen wollte, die vielleicht auch in Hamburg im Regal standen, aber in Gribow, am 2. Wohnsitz, nicht zur Verfügung standen.

Und so kam es, daß ich plötzlich wieder Lesefreude empfinde. Ein ganz eigenwilliges Werk der Weltliteratur ist da auf meinem Tableau:  Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman, von Laurence Sterne.

Ich wusste daß es dieses Buch gibt. Aber ich wußte nicht und erfahre es erst jetzt, welch extravagantes, exzentrisches Buch dies ist, 1758 oder 1759 geschrieben.

William Bunburry: The damnation of Obadiah
William Bunburry: The damnation of Obadiah

Diese Bild- oder Mediendatei ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist.

Und so wie Tristram Shandy immer noch im Geburtskanal seiner Mutter steckt und ich immer noch nicht erfahren habe, weshalb seine Nase krumm ist, stecke ich in den endlosen Disputen äußerst eigenwilliger versponnener englischer Herren, die sich um Festungsbauten, Theaterkritiken, Geburtshilfe und Verfluchungen ranken.

Ein ganz großer Genuß.

Alle glücklichen Familien gleichen einander,

jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.
Все счастливые семьи похожи друг на друга, каждая несчастливая семья несчастлива по-своему.

So begann Leo Tolstoi seinen Roman Anna Karenina. Und dieser Satz prägte sich mir ein. Derart, daß ich in meiner ersten Photo-Ausstellung Der Zweite Blick 2000 in St. Petersburg diesen Satz mit dem nachstehenden Bild verquickte.

Alle glücklichen Familien

Dieser Satz ist Teil meines Gedanken-Fundus. Immer wieder blitzt er auf.
Und viele Erinnerungen knüpfen sich an diesen Satz.

So hörte ich einmal bei einer Busfahrt, wie ein wohl 13jähriges Mädchen ihren Freundinnen verwundert diesen Satz vorlas. Sie hatte ihn in einem Kalender gefunden.  Wohl keine hatte den Sinn sogleich verstanden, nicht erfaßt, warum eine solche Aussage in einem Kalender stünde. Ich mischte mich ein und erzählte ihnen, daß dies der Beginn eines ganz großartigen Romans sei, von einem russischen Schriftsteller, und daß sie es unbedingt lesen müssten, dieses Buch sei für jede junge Frau wichtig.

In dem leise-melancholischem Film „Die Eleganz der Madame Michel“ kommen sich die Concierge und der neue, begüterte Wohnungseigentümer, ein Japaner aus einer ganz fremden Kultur, einander näher, da die Concierge diesen Satz brummelnd von sich gibt. Dadurch ändert sich ihr und sein Leben.

Es gibt viele solcher Begegnungen mit diesem Satz, gehört er doch zu den meistzitierten (schauen Sie nur mal bei Google nach).

Ich erinnere mich, daß ich bei der Lektüre des Romans nie richtig sicher war, ob Wronski Anna wirklich liebe. Diese Frage trieb mich so um, daß ich mehrere Freundinnen fragte:

то, что ты подразумеваешь, действительно любит Вронский Анну?
Was meinst du, liebt Wronski Anna wirklich?

Auch dieser Satz wurde zu einem geflügelten Wort, wenn auch nur in meinem Bekanntenkreis.

Matthias Wegehaupt: Die Insel

Matthias Wegehaupt: Die Inselzu meiner großen Freude fand ich gestern beim Besuch „meines“ Buchladens, Bücher-Christiansen in Ottensen, um das Werk von Judith Zander, Dinge, die wir heute sagten, abzuholen, bei den Taschenbüchern „Die Insel“ von Matthias Wegehaupt.

Letztes Jahr war dieses Buch das Buch des Sommers für mich gewesen,  [link2post id=“264″]ich hatte es damals beim Resteverwerter Jokers gefunden [/link2post] und immer wieder im Gespräch mit anderen Lesern die Verwunderung geäußert. warum dieses Buch nicht wieder aufgelegt wird. Angesichts der astronomischen Preise, welche für gebrauchte Exemplare gefordert wurden (zeitweise bis zu180,00 € bei ZVAB) war ich mir sicher, daß eine Neuauflage ihre Leser finden würde. Und ich konnte das Buch gar nicht so oft verleihen, wie es angefragt wurde (wollte ich auch nicht…)

Dieses Buch gehört für mich zu den unmittelbarsten literarischen Zeugnissen der DDR-Zeit in der „Nach-Wende-Literatur“, besteht jeden Vergleich mit dem Turm, und ist nun endlich wieder erhältlich, bei LIST, als Taschenbuch.

Matthias Wegehaupt: Die Insel: Roman
Broschiert: 1013 Seiten
Verlag: List Tb. (1. Oktober 2010)
ISBN-10: 3548610137
ISBN-13: 978-3548610139

rein und gut – ohne Zorn

steht auf dem Grabkreuz des Dichters Marek Hlasko auf dem Wiesbadener Südfriedhof.
Geschmückt ist die Grabstelle mit roten und weißen Blumen, den Farben Polens.
Marek Hlasko wurde nur 35 Jahre alt, lebte ein verzweifeltes Leben und starb 1969 in Wiesbaden an einer Schlaftabletten-Vergiftung.
Seine Erzählungen („Der achte Tag der Woche“, „Alle hatten sich abgewandt“ und andere) wurden ins Deutsche übersetzt und bei uns gelesen. In seiner Heimat Polen, aus der ausgewiesen wurde, wurden seine Werke nicht gedruckt.
So zornig wie seine Helden, so verzweifelt und gescheitert – so lebte auch er.

Heute gibt es keine seiner Romane und Erzählungen mehr im Buchhandel, der Film „Der achte Wochentag“ ist in Vergessenheit geraten, wer kennt ihn noch?

Als Schülerin las ich seine Bücher, am stärksten beeindruckte mich wohl „Alle hatten sich abgewandt“, die Verzweiflung, die Heimatlosigkeit – das ging mir nahe.
Ich erinnere mich auch an einen Mann in einem langen Regenmantel, der alleine und finster an der Theke im Wiesbadener „Jazzhaus“ stand. „Das ist der polnische Dichter“ flüsterte mir ein Kumpel zu, als ich nach dem Unbekannten fragte.

Dann sah ich auf dem Wiesbadener Südfriedhof sein Grab und fortan brachte ich ihm Blumen, wenn ich das grosselterliche Grab aufsuchte, manches Mal kam ich auch nur bis zu seinem Grab.

All das kam mir wieder in Erinnerung, als Hania Zdrojewska in einer Mail anfragte, ob ich ihr den Weg zu seinem Grab auf dem Wiesbadener Friedhof nennen könne. Das konnte ich nicht, aber das Friedhofsamt gab Auskunft und so konnte die polnische Germanistikstudentin das Grab aufsuchen.

Sie sandte mir Photos vom Grab und einen Plan des Friedhofs. Nun werde ich bei meinem nächsten Besuch in der alten Heimat sein Grab wiederfinden.
Südfriedhof