Vergebliche Suche und wiedergefundene Jugend

Jens Sparschuh, Ende der SommerzeitJens Sparschuh ist mir als Autor bekannt, aus Feuilletons und Rezensionen. Ich habe sicherlich auch schon Einiges von ihm gelesen.
Nun fand sein neues Buch meine Aufmerksamkeit, das Ende der Sommerzeit.

Und zwar, weil in den Rezensionen, die wie immer verdienstvoll vom Perlentaucher zusammengestellt, der Name „Vladimir Nabokov“ fiel.
Schon bin ich interessiert. Und suche mir das Buch heraus.

Es gibt zwei Ausgaben: eine klassische gebundene Ausgabe und eine Kindle-Ausgabe. Und da ich mir vorgenommen habe, nicht mehr soviele Bücher „in natura“ zu kaufen,  meine Regale können das nicht mehr fassen, lade ich die digitale Version herunter, auch wenn ich gar nicht einsehen mag, weshalb eine digitale Version nur 2€ günstiger ist als die gedruckte Ausgabe.

Schnell ist es gelesen, interessant, mit vielen Erzählebenen. Pubertät, Sommerferien, Jugend in der DDR, Prag 1968, intellektuelle Neurosen, Antriebslosigkeit und dann plötzlich dieses Thema, das alles aufwirbelt: wo hat Nabokov im Sommer 1929 denn nun tatsächlich ein Datschengrundstück gekauft?

Der Erzähler sucht und findet. Er findet zuviel und er findet das Falsche. Er versäumt viel und erinnert Vieles wieder oder wieder neu. Ein Entwicklungsroman und eine literarische Recherche, beides erfolglos. Und am Ende weiß er nicht wie weiter. „Erinnerung, sprich“ heißen Nabokovs Memoiren, und dieses Buch vergißt der Erzähler in der Datscha seiner Familie, von der aus er die Suche startet. Die Suche nach Nabokovs Sommerhaus. Die Erinnerung spricht so deutlich zu ihm, ruft soviele Erinnerungen wach, daß er das Buch selbst schließlich in der Datscha vergißt.

Die Kontroversen zwischen den Nabokovianern und den Anti-Nabokovianern, Nabokovs Abneigung gegen Freud, freudianische Literaturwissenschaftler, verklemmte Lieben und verbissene Nabokov-Adepten, all das  kommt genüßlich vor. Trotz vieler Hinweise und Spuren kann die Nabokovsche Parzelle nicht geortet werden, verliert sich.

Die Sommerzeit endet.
Nabokov hat aus finanziellen und wohl auch anderen Gründen nie die Datschenpläne realisiert, keine Sommerzeit dort erlebt.
Die erinnerten Sommerferien 1968 enden mit dem Einmarsch der DDR in Prag und der ersten zarten Liebe.
Eine neue Liebe versäumt der Erzähler um eine Stunde Zeitverschiebung …

Gut lesbar, amüsant, kenntnisreich, verwirrend, athmosphärisch stimmig, was soll ich weiter sagen?

Jens Sparschuh: Ende der Sommerzeit
Gebundene Ausgabe: 256 Seiten
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
ISBN-10: 3462046160
ISBN-13: 978-3462046168

Der unbekanntere, kleinere Ziestsee

jedenfalls der offizielle

Dunkle Geschichten

Nikolai Gogol
Nikolai Gogol

ich bin wieder mal in Russland unterwegs, zum 10. Todestag meines Freundes Nikolai Dmitriev also auch wieder in Moskau auf dem Novodevichy-Kloster-Friedhof, dem „Prominenten-Friedhof“.

Auf dem Weg zu Nick lege ich immer Blumen auch bei Gogol, Tschechov und Bulgakov nieder. Und dieses Mal gab es eine Überraschung für mich: wir fanden Gogols Grab nicht mehr. Jedenfalls auf den ersten Blick, denn seine Büste war verschwunden.

Was uns unverständlich schien, klärte sich dann auf: statt der Büste krönt nun ein goldenes Kreuz seine Grabstätte.

Gogols Grab Für mich wieder ein Zeichen für die neue „Kirchlichkeit“ in Russland.

Ansonsten, und daher der Titel, lese ich gerade Novellen von Fjodor Sologub, die wahrlich dazu fähig sind, die Stimmung zu trüben.

Welch dunkler Drang herrscht in den Novellen, Schattenspielen bringt den Wahnsinn, junge Frauen wandeln sich zu Bräuten unbekannt verstorbener junger Männer…

ein dichtes düsteres Geflecht.

Alexandrov, das Museum der Anastasia und Marina Svetaeva

100km nordöstlich von Moskau im Oblast Vladimir liegt die kleine Stadt Alexandrov. Größtes Ereignis in der Geschichte dieses Ortes war sicherlich die Entscheidung des Zaren Iwan des Schrecklichen, Alexandrov 1564 zu seiner Hauptstadt zu erheben. 17 Jahre regierte er hier, danach fiel die Stadt in die Bedeutungslosigkeit zurück, bis Mitte des 17. Jahrhunderts im alten Kreml ein Frauenkloster errichtet wurde und der Kreml weiter ausgebaut wurde.

Heute unterscheidet sich das kleine Städtchen nicht von anderen russischen Provinzstädtchen, dem gut erhaltenen und gepflegten Kreml liegt die wenig aufregende arme Kleinstadt gegenüber.  Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebte hier Anastisia Svetaeva, die letzte Dichterin des Silbernen Zeitalters der russischen Lyrik. Ihre Schwester Marina Svetaeva besuchte sie in den Jahren 1015 bis 1917 oft und verbrachte hier viel Zeit. Hier empfing sie Ossip Mandelstam und verfaßte ihre Gedichte an Alexander Blok. Es waren die letzten glücklichen Jahre ihres Lebens, wie Lev Gotthelf, der Kurator, anmerkte.

Das Literatisch-Künstlerische Museum der Marina und Anastasia Svetaeva legt Zeugnis ab von dieser Zeit. Es ist untergebracht im Nachbarhaus des von den Schwestern und ihren Familien bewohnten Holzhauses. Beide Isba bilden eine trutzige Einheit vor den einfachen Wohnblöcken des 20. Jahrhunderts.

Das Museum wird gehütet und gepflegt von Enthusiasten, mit wenig Geld und wenig Ausstellungsmaterial (denn es gibt wenig authentisches Material) wurde ein „metaphorisches Museum“ errichtet, das einen Eindruck von der damaligen Lebenswelt gibt, mittels alter Photographien den Blick auf die Stadt rekonstruiert; sogar einen Bach gibt es in diesem Raum.

[scrollGallery id=1]

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erhielt der Ort eine weitere, kulturgeschichtliche Bedeutung. Da der Ort 100 km von Moskau entfernt liegt, konnten sich hier viele Rückkehrer aus den Lagern des Stalinismus, die sich der Hauptstadt nur bis 100 km nähern durften, niederlassen. Über ihr, oft sehr armes, Leben kann man sich im Museum des 101. Kilometers, das in einem ehemaligen Marstall neben dem Svetaeva-Museum untergebracht ist, informieren.

Museum des 101. Kilometers, Alexandrov

Dieses Museum ist einer der wenigen Orte, an dem den Opfern der Gewaltherrschaft gedacht wird und ihr kulturelles Erbe gewürdigt wird.

Heute bietet es den Rahmen für Kammerkonzerte und kulturelle Veranstaltungen, die wiederum mit magerstem Budget, aber umso größerem Engagement ermöglicht werden.

Selten war ich so beeindruckt. Ich danke Lev Gotthelf und seinen Organisatoren für die Einladung nach Alexandrov und die Zeit, die wir dort verbringen konnten.

Parallele Geschichten

Bevor ich nun versuche, Peter Nadas Parallelgeschichten zu über- und durchleben, liegt mir eine Lese-Erfahrung am Herzen, die ich hier notieren möchte. Iwan Bunin tritt in meinen Horizont.

Iwan Bunin: Liebe und andere UnglücksfälleGut, ich hatte schon die "Briefe an einen unbekannten Freund" gelesen, auch einige verstreute Texte, aber nun hat es eine andere Intensität. Der Band mit Novellen aus den Jahren 1916 bis 1940 (nicht mehr lieferbar, aber zu unschlagbar günstigen Preisen gebraucht zu finden!) beschäftigt mich nun schon einige Wochen. Mehr als eine Erzählung kann ich nicht verarbeiten am Tag, sie sind so konzentriert, dicht, nah, wie soll ich es beschreiben?

Da gibt es den Sonnenstich: eine Frau und ein Mann, die sich auf einem Wolgadampfer kennenlernen, steigen kurzerhand aus und verbringen eine Nacht zusammen in einem Hotel. Sie wissen, daß eine solche Nacht nicht wiederkehren wird, daß sie etwas Einmaliges erlebt haben. Erst fährt sie am nächsten Tag mit dem nächsten Linien-Dampfer weiter, zurück vom Sommer-Urlaub zur Familie, dann er noch einen Tag später.
Eine radikale Geschichte. Die beiden sind sich bewußt, daß diese Nacht ein einmaliges Erlebnis bleibt und kehren in ihre Leben zurück.
EIne Erzählung, so radikal in dieser Zeit wie Anton Tschechows Die Dame mit dem Hündchen: Aber bei Tschechow  brechen sie und er aus ihren schal gewordenen Ehen aus und beginnen ein gemeinsames Leben in Moskau. Aus ihrer Urlaubsaffaire wird ein gemeinsames Leben.
Beide Paare brechen Konventionen und sind sich dessen bewußt. Beide Paare haben etwas Unerhörtes getan.

GelenschikDann die Erzählung "Der Kaukasus": Eine Frau betrügt ihren Mann. Der Erzähler ist ihr Liebhaber. Sie reisen an die Schwarzmeerküste, suchen einen kleinen Ort und verbringen gemeinsame Tage. Ruhig, zufrieden, ohne Frage. Ihr Mann suchte sie in Gelendshik, in Gragra, in Sotschi. Er erschießt sich.

Und bei Tschechow geht der Mann ins Meer, In der Nacht zu Weihnachten, weil er die Enttäuschung seiner Frau, daß er einen Schiffbruch überlebt hat, nicht ertragen kann.

Die Menschen in diesen Erzählungen bestimmen ihr Leben nicht selbst, sie liefern sich der Liebe aus. Und halten ihr stand, mehr oder weniger stark.

Hans Joachim Schädlich: Kokoschkins ReiseIwan Bunin: Cechov. Erinnerungen eines ZeitgenossenDann finde ich zu Hans Joachim Schädlich's Band "Kokoschkins Reise" und auch dort begegnet mir Iwan Bunin. Der Protagonist, Herr Kokoschkin, kennt ihn aus der Zeit des Exils in Odessa, 1920.

Aber dazu in einem weiteren Beitrag.

Und bei einem Freund sehe ich "Cechov. Erinnerungen eines Zeitgenossen", aktuelle Lektüre, zeitweilig beiseitegelegt..

Plötzlich ist Iwan Bunin überall. Ich muß ihn lesen. Wie gut, daß eine Neuausgabe seiner Werke beim Verlag Dörlemann in Arbeit ist.

Iwan Bunin: Liebe und andere Unglücksfälle.
Gebundene Ausgabe: 396 Seiten
Verlag: Eichborn (2004)
ISBN-10:3821847247
ISBN-13: 978-3821847245

Iwan Bunin: Cechov. Erinnerungen eines Zeitgenossen
Gebundene Ausgabe: 298 Seiten
Verlag: Friedenauer Presse; Auflage: 1 (2004)
ISBN-10: 3932109384
ISBN-13: 978-3932109386

»Als Gruß zu lesen«: Russische Lyrik von 2000 bis 1800

Als Gruß zu lesenwiedereinmal überrascht Felix Philipp Ingold.
Er dreht die Zeit um.
Und schert sich auch nicht um „anthologische Gewohnheiten“.

Jeder Autor wird mit einem Gedicht vorgestellt, auf einer Doppelseite das Original und die Übersetzung.

Auch bisher unbekannte Lyrikerinnen, bisher unübersetzte Gedichte sind in diese Sammlung eingegangen.

So fühle ich mich gegrüßt von mir unbekannten und bekannten Autoren.

 

Felix Philipp Ingold:
»Als Gruß zu lesen«: Russische Lyrik von 2000 bis 1800

Gebundene Ausgabe: 400 Seiten
Verlag: Dörlemann; Auflage: 1., Aufl. (18. September 2011)
Sprache: Russisch, Deutsch
ISBN-10: 3908777658
ISBN-13: 978-3908777656

 

Svetlana Geier

wir Deutsche haben das große Glück, die großen Werke der russischen Literatur von großen Übersetzern lesen zu dürfen: was Rosemarie Tietze für Tolstoi, Peter Urban für Tschechow geleistet hat, das hat Svetlana Geier für Dostojewski gestemmt.

Anders kann ich diese gewaltige Anstrengung nicht bezeichnen. Aber es ist nur ein Wort. Svetlana Geier hat mit der russischen und der deutschen Sprache, der Literatur und in der Literatur gelebt.
Svetlana Geier

Ihr Leben ist ein Spiegel des 20. Jahrhunderts und ihr Leben war von Sprache bestimmt. Sprache war ihre Aussteuer, Sprache ermöglichte ihr das Studium und das Leben in Deutschland, mit ihrer Sprache schenkte sie uns die Werke der großen russischen Schriftsteller Tolstoi, Bulgakov und Dostojewskij.

Wenn ich in Freiburg war und in Günterstal vorbeikam, freute ich mich immer, daß sie dort lebte, hätte ihr gerne Blumen gebracht, wollte aber nicht aufdringlich sein.

Im Oktober dieses Jahres musste ich ins Krankenhaus, nahm einen kleinen Video-Abspieler mit und den Film „Die Frau mit den fünf Elefanten“. Ich bin fasziniert von ihrem Wesen, ihrem Umgang mit Sprache, ihrer Arbeitsweise, und habe höchsten Respekt vor ihr.

Svetlana Geier und ihr Gegen-Leser

Dann starb sie am 7.  November im hohen Alter von 87 Jahren. Ihre Sprache wird uns Lesern und den noch nicht von ihr übersetzten Büchern fehlen.

Informationen zu Svetlana Geier in der Wikipedia.

Informationen zu dem Film „Die Frau mit den 5 Elefanten“ finden Sie auf https://www.5elefanten.ch/ und auf https://www.kino.de/kinofilm/die-frau-mit-den-fuenf-elefanten

Die Frau mit den 5 Elefanten

Schauen Sie sich den Trailer an.

Intertextuelles Schreiben: Ein Klassiker als Plagiator

Unter den zahlreichen Artikeln zu Tolstois Hundertstem ragt ein Essay von Felix Philipp Ingold heraus, der, beim Perlentaucher veröffentlicht, nicht die großen Werke wiederkäut und einordnet, sondern eine Verbindung zwischen Tolstois Schreibtechnik  seiner letzten Jahre und heute gängiger Schreibpraxis sieht:

Das Einzugsgebiet von Lew Tolstojs Aneignungsinteresse reicht – quer durch alle Epochen und Kulturen – vom Talmud und den Vorsokratikern über arabische Sprichwörter und indische Weisheiten bis in die europäische Moderne: Anton Tschechow und William Butler Yeats stehen als Zeitgenossen am Ende einer langen Reihe von Beiträgern, zu denen u.a. Luther, Emerson, Thoreau, Seneca, Konfizius, Amiel, Gogol, Epiktet, Saadi, Pascal gehören. Fremdes Gedankengut amalgamiert Tolstoj bedenkenlos mit eigenen Ideen und Meinungen, Fremdzitat und Selbstaussage werden bis zur Ununterscheidbarkeit verschliffen, das Arrangement vorgefundener Texte wird aufgewertet zu einer auktorialen Geste, die nun also nicht mehr auf Diskursbegründung, vielmehr auf Diskursverschmelzung angelegt ist. Damit führt Lew Tolstoj ein intertextuelles Schreibverfahren vor, das erst viel später zur gängigen literarischen Praxis werden sollte und das heute wieder – angesichts von Plagiaten und Imitaten aller Art – weithin zu reden gibt.

Der Autor verschwindet in diesen Texten hinter den durchmischten und dadurch fast autorlos gewordenen Zitaten und Extrakten anderer, nur die Auswahl der Texte und deren Verflechtung vermag noch als „Handschrift des Autors“ durchzugehen.

Unter denen, welche dafür die entsprechende autorlose Rhetorik eingespurt haben, gehörte – noch vor James Joyce, T. S. Eliot und dem französischen Meisterplagiator Louis-Rene des Forêts – der alte Lew Tolstoj mit seinen „Lesebüchern“, deren einstige Botschaft weitgehend obsolet geworden ist, die aber in ihrer Machart vorbildlich sein können für die als „Rewriting“ oder „Überschreibung“ praktizierte Verarbeitung fremder Texte, wie sie heute gang und gäbe ist.

Quelle: Perlentaucher, 21.11.2010, https://www.perlentaucher.de/artikel/6599.html