Unterschreiben? Ja oder Nein?

Imre Kertész beschreibt in seinem Roman „Liquidation“ die Situation, welche gerade die Diskussion um Oskar Pastiors IM-Tätigkeit bestimmt. Die Verpflichtung zur Mitarbeit beim Geheimdienst liegt wie ein schwarzer Schatten über den Menschen, die in solche Situation gepresst wurden.

Und diejenigen, die das Glück hatten, in einer freieren Gesellschaft zu leben und nicht solchen Situation ausgeliefert zu sein, brauchen sich nicht zu erheben und zu postulieren, daß sie widerstanden hätten. Schon die Selbst-Prüfung, ob wir eine solche Erpressung ausgehalten hätten, der Verpflichtung widerstanden hätten, ist irrelevant, denn es macht ja gerade das Wesen des Totalitarismus aus, daß der Einzelne gebrochen wird.

Der Text von Imre Kertész ist eine gute Lektion für uns.

Um es euphemistisch auszudrücken: Ich hatte mich in meinem ganzen Leben noch nie so einsam und verlassen gefühlt. Ab und zu blickten sie zu mir herüber, mal der eine, mal der andere, und ich erinnere mit mich mit Bestimmtheit eines bedrohlichen Moments, als in mir der schreckliche Gedanke aufkam, meine Vernehmer verabredeten vielleicht gerade, mich zusammenzuschlagen oder aber Fachleute ins Zimmer zu rufen, um mich zusammenschlagen zu lassen. Zum Glück geschah nichts dergleichen, doch das Erlebnis dieses Augenblickes hatte genügt, meine Selbstsicherheit auf fundamentale Weise zu erschüttern. Denn ich mußte mir ohne Umschweife eingestehen: Hätten sie mich zusammengeschlagen, oder vielmehr: hätten sie mich vor die Alternative gestellt, entweder zusammengeschlagen zu werde oder das Papier zu unterschreiben, hätte ich sehr wahrscheinlich die Unterschrift gewäht. Nicht mit Sicherheit, aber doch eher so als andersrum – das fühlte ich. Ja, ich war mir sogar sicher, daß ich, wenn ich das Papier – selbstverständlich unter physischem Zwang – unterschrieben hätte, diese Tat vor mir selbst ebenso hätte rechtfertigen können wie die natürlich sympathischere Variante, daß ich nicht unterschrieb, und mit dieser Ungewißheit war, wie soll ich sagen, nicht leicht zusammenzuleben. In meiner Einzelhaft quälte ich mich mit philosophischen Dilemmata: An metaphysische Mächte glaube ich nicht unbedingt, die ethischen Kategorien aber sah ich plötzlich fürchterlich schwanken. Ich mußte mich der nüchternen Tatsache entsinnen, daß der Mensch ein sowohl physisch als auch moralisch heillos ausgeliefertes Wesen ist; und das ist nicht leicht zur Kenntnis zu nehmen in einer Gesellschaft, deren Idee und Praxis allein von einer polizeistaatlichen Weltaschauung bestimmt ist und aus der es keinen Ausweg gibt und wo jede Rechtfertigung unbefriedigend bleibt, auch dann, wenn ich mir diese Alternativen nicht selbst stelle, sondern der äußere Zwang mich vor sie stellt, so daß ich im Grunde gar nichts mit dem zu tun habe, was ich tue oder was mit mir getan wird.

Imre Kertész: Liquidation

Roman

Gebundene Ausgabe: 150 Seiten

ISBN-10: 3518414933

ISBN-13: 978-3518414934
Suhrkamp, Frankfurt 2003, Seite 62/63