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Franz Martin Olbrisch

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modern art sextet - haiku

Inhalt
Drei Sätze für Klaviertrio

  Vor dem rauhen Sturm
  warnte mich ein Räuber heut
  im Vorübergehen

  (Buson, 1715-1783)

© 1996 - by edel (Akademie Label)

  1. Franz Martin Olbrisch - 3 Sätze für Klaviertrio

Die Komposition entstand 1994 aus Anlaß des 250. Konzerts der UnerhörteMusik. Das vom Veranstalter vorgegebene Thema Haiku bestimmt daher Form und Inhalt dieser ca. dreiminütigen Komposition. Schon die Existenz dreier Sätze bei solch knapper Dauer ist recht ungewöhnlich und unterstreicht nicht nur die Tendenz zur Kürze, die allen Haikus zu eigen ist, sondern korrespondiert auch in seiner dreiteiligen Form mit den drei Zeilen des Haikus. Aber nicht nur der Dreizeiler Haiku - oder Haikai wie er ursprünglich hieß - mit seinen Proportionen 5:7:5 , sondern auch sein profaner Vorläufer, der Fünfzeiler Waka mit den Proportionen 5:7:5:7:7 kommen hier zum Einsatz.

So bildet z.B. der erste Satz für sich genommen ein Waka mit den Formabschnitten 5 (A=10,6´´) : 7 (B=14,8´´) : 5 (A´=10,6´) : 7 (B´=14,8´) : 7 (C=14,8´´). Dabei wird der Formteil A von bewegten, getupften Klängen gebildet, der sich von Teil B mit seinen gehaltenen, kratzigen Klangflächen deutlich abhebt. In gleicher Weise und mit den gleichen Dauernproportionen sind auch der zweite (5:7:5:7:5:7:5) und der dritte Satz (7:7:5:7:5) gestaltet. Im gesamten Trio nimmt der zweite Satz mit seinen ständigen Tempowechseln die Rolle des kontrastierenden Mittelteils ein, während der dritte Satz rückläufig auf einzelne Elemente der beiden vorderen Sätze zurückgreift und das ganze Trio in sich abschließt.

Neben diesen formalistischen Zahlenspielen, die sich wie in den japanischen Vorlagen sowohl im einzelnen als auch in den Summen aus lauter Primzahlen zusammensetzen, existiert aber noch eine zweite Bezugsebene, die sich mit den symbolhaft verschlüsselten Inhalten der Haikus auseinandersetzt. So wird zu Beginn des zweiten Satzes, wie es die Tradition der Haikus verlangt, eine Jahreszeit angedeutet, die die Grundstimmung des ganzen Klaviertrios unterstreicht. In diesem Fall sind es die ersten Takte des Allegro non molto aus dem Concerto in Fa minore - L´Inverno von Antonio Vivaldi, die in der für Haikus typischen indirekten Form durch ihr Zitiertwerden auf den Winter verweisen.

Im weiteren Verlauf des Satzes werden dann auch noch der Beginn des Largo und die ersten Takte des Allegro verarbeitet. Dieser Bezug zu Vivaldi wird durch zwei weitere Bezugspunkte ergänzt. Über das ganze Trio verteilt erscheinen verarbeitete Fragmentsprenkel aus Schönbergs Streichtrio op. 45. Dieses musikalisch expressive Diagramm, welches Schönberg kurz nach einem schweren Herzinfarkt niederschrieb, verbindet in geradezu exemplarischer Weise Ausdruck und Kalkül miteinander. Im Zusammenhang des Klaviertrios verleiht es nicht nur dem Vivaldischen Winter seine philosophische Deutung durch seine Anspielung auf die Vergänglichkeit, sondern läßt außerdem eine Vielzahl von Bildern im Bewußtsein anklingen, die gerade weil für sich stehend, einen Anstoß für die kognitive Wahrnehmung darstellen. Verstärkt wird dieser Anstoß durch eine Klanglichkeit der Verweigerung, die an die musikalische Sprache Mathias Spahlingers erinnert, die sich wie ein Schleier über das ganze Trio legt.

Alles ist doppeldeutig, alles ist verschlüsselt, die Interpretation des Themas Haiku geschieht nicht im Sinne einer einfachen Umdeutung als Miniatur, sondern versucht dessen inhaltlichen Aspekt, das fast Unmögliche, der Kosmos auf kleinstem Raum, musikalisch umzusetzen. Der rauhe Sturm, der Räuber, seine Warnung heute, das Vorübergehen, all diese Metaphern aus dem oben zitierten Haiku spielten für mich eine entscheidende Rolle bei der kompositorischen Arbeit, aber hinter dieser Bildersprache verbirgt sich eine andere Ebene, welche unmittelbar auf den Hörer verweist, der fernab aller Semantik, auf sich allein gestellt, seine eigenen Symbiosen herstellt, seinen “eigenen Film dreht”, ob er will oder nicht.

F.M.0. 

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