Franz Martin Olbrisch

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Im Labyrinth der Orte und Zeiten
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FMo99.5 CD>>CD







Programmheftbeitrag
von Franz Martin Olbrisch

für die UA von
"FM o99.5"

bei den Donaueschinger Musiktagen 1993











"FM o99.5" ist eine Installation für Radio und Kopfhörer, 48 Stunden lang im Raum Donaueschingen zu empfangen. Der Raum meiner Musik ist ein medial bestimmter, die Donaueschinger Musiktage fungieren als Steinbruch für kleine und kleinste musikalische und etwas umfangreichere textliche (sprachliche) Materialien. An dieser Stelle möchte ich einige grundsätzliche Überlegungen zu meiner Installation "FM o99.5" äußern, die ich mit einem Zitat von Frank Hillberg (Positionen 8) einleite: "Den Raum als Grundlage musikalischen Geschehens aufzufassen, scheint von erschreckender Banalität zu sein und doch ist auffällig, wie wenig diese musikalische Kategorie in den theoretischen Erörterungen Niederschlag gefunden hat, wie ungegliedert die Begrifflichkeit dieser einen der zwei reinen Formen der Anschauung (Kant), neben der Zeit, im musikalischen Vokabular geblieben ist. Selbst einschlägige Fachlexika wie das Riemann Musiklexikon verzeichnen lediglich Artikel, die bestimmte Probleme, meist faktischer Natur, wie z.B. »Raumakustik« herausheben."

Wenn also von Raum in musikalischer Hinsicht gesprochen wird, sind erst einmal einige Feststellungen vonnöten, besonders in bezug auf eine Arbeit, bei der sich der reale Raum auf die wenigen Kubikmillimeter zwischen Kopfhörermembran und Trommelfell reduziert. So stellt sich zunächst die Frage, was wir eigentlich unter Raum verstehen: Ist es lediglich der architektonische Raum, der mit seinen spezifischen akustischen Eigenschaften auf das musikalische Geschehen Einfluß nimmt, und daher zwangsläufig zum Bestandteil der Komposition gerät, und in dem dann die Klänge durch räumliche Verteilung der Klangquellen - inclusive deren Bewegung bzw. der Simulation dieser Vorgänge - sich "verräumlichen"? Oder ist es nicht mehr noch ein sozialer Raum, als Ort der Rezeption, der erst die Voraussetzungen für eine differenzierte Wahrnehmung schafft? Tatsächlich ist das "Ritual" des Rezeptionsverhaltens weitgehend unabhängig vom rezipierten Werk und kann ihm daher nur sehr unzureichend entsprechen. So ist es im allgemeinen gleichgültig, um welche Musik es sich handelt, es ist der gleiche Ort (Konzertsaal) und, was noch viel bedeutender ist, es ist mit ihm das gleiche gesellschaftliche Zeremoniell: das festliche Schmücken, das gefällige Applaudieren, die kontemplative Hingabe, die sach- und fachkundigen Pausengespräche usw., kurz: das gesellschaftliche In-Erscheinung- treten. Ich kann mir allerdings nur wenige Musikstücke vorstellen, für die dieses der angemessene Rahmen ist. 

In den Räumen, in denen Kunst zum gesellschaftlichen Ereignis wird, bedient diese zwangsläufig die bildungsbürgerlichen Mechanismen, gerät dabei zu einer geheuchelten Idylle, in der selbst das Elend unserer Welt - obzwar aufgegriffen, um es kritisch zu kommentieren - noch zum kulturellen Stimulans verkommt. Diesem Dilemma zu entkommen ist der Kunst anscheinend nicht beschieden, ist sie doch zu sehr mit genau diesen Voraussetzungen verwoben, und zwar in ganz besonderem Maße durch den Raum, in dem sie in Erscheinung tritt (aus dieser Tatsache erhalten ja gerade die Arbeiten von Duchamp und Beuys ihre besondere Wirkung). Erst dadurch, daß der Wahrnehmungsraum, an keinen festen Ort gebunden ist, bekommt sein sozialer (oder auch unsozialer) Aspekt eine eigentümlich vieldeutige Funktion. Wenn ich also das Medium Rundfunk als "räumliches" definiere, so vor allem in bezug auf den soziologischen Raum, der hier auch zum musikalischen wird. 

Seit meiner ersten ortsbezogenen Arbeit in der Neuen Nationalgalerie in Berlin sind es - angeregt durch die Architektur Mies v.d. Rohes - nicht so sehr die physikalischen Koordinaten des Raumes, welche mich interessieren (etwa im Sinne von wandernden Klangereignissen oder der Ausnutzung eines speziellen Reflexionsverhaltens) sondern die Verhaltensweisen des Einzelnen in seiner räumlichen Umgebung, wobei diese für mich vor allem aus der besonderen Art des Zusammentreffens von Zeit und Ort besteht. Während der Begriff Raum abstrakt und vage bleibt - ist er doch bis zu astronomischen Dimensionen ausdehnbar und damit verallgemeinernd - ist der Ortsbegriff stets konkret, mehr noch, im Unterschied zum Wort Raum, dessen assoziative Komponente dem Statischen zugewand ist, impliziert der Begriff Ort erst die Möglichkeit von Bewegung in zeitlicher Abfolge. Ihn als Standpunkt zu verlassen und damit seine Position zu verändern, verweist auf eine Beweglichkeit, welche auch und vor allem als Metapher für eine geistige Haltung anzusehen ist. Ein Ort ist immer ein konkreter Ort und stets auf das Vorhandensein anderer Orte angewiesen, setzt sich also in Bezug zu diesem "Anderen". 

Der konkrete Ort, auf den ich mich hier beziehe, ist Donaueschingen, der soziale Ort sind die Donaueschinger Musiktage und das Medium Rundfunk. Aus diesem Umfeld habe ich das Material für die "Installation" zusammengestellt. Es reflektiert gewissermaßen die Geschichte der Donaueschinger Musiktage seit 1950 - dem Jahr, seit dem eine Rundfunkanstalt (SWF) wesentlich zum Mitveranstalter des Festivals geworden ist; und gleichzeitig steigert es die Reflexion der Historie bis zur Unkenntlichkeit wie in einem "überakustischen" Raum. Dabei wird in einem überdimensionalen Zyklus von 83 Teilen und 48 Stunden Dauer das Material auf seine verschiedenen Komponenten hin untersucht und zu immer neuen Konstellationen montiert. 

Bei diesen Dimensionen gerät die "distanzierte Reflexionslust des Gemütsvermögens" (Kant) zu den von McLuhan und Benjamin eingenommenen Positionen des Taktilen, bei denen die Reflexion zum feed-back wird. Walter Benjamin spricht in bezug auf die taktile Rezeption von der Gewohnheit und stellt diese in einen Gegensatz zur Aufmerksamkeit und Sammlung und in unmittelbaren Zusammenhang zur Rezeption der Architektur also des Räumlichen. "Die taktile Rezeption erfolgt nicht sowohl auf dem Wege der Aufmerksamkeit als auf dem der Gewohnheit. Der Architektur gegenüber bestimmt diese letztere weitgehend sogar die optische Rezeption. [...] Diese an der Architektur gebildete Rezeption hat aber unter gewissen Umständen kanonischen Wert. Denn: »Die Aufgabe, welche in geschichtlichen Wendezeiten dem menschlichen Wahrnehmungsapparat gestellt werden, sind auf dem Wege der bloßenOptik, also der Kontemplation, gar nicht zu lösen. Sie werden allmählich nach Anleitung der taktilen Rezeption, durch Gewöhnung, bewältigt.«" (W. Benjamin) 

Es könnte dies die Art der Rezeption sein, die das Hörverhalten gegenüber solchen Teilen dieser Installation wie z.B. Turbulenzen (Nr66) und Begegnungen des John Scott Russell (Nr35) erleichtert, sicherlich aber ist das Sich-Einlassen auf die immense Dauer des 48stündigen Programms ausschlaggebend. Dafür spielt im Gegensatz zur tradierten Aufführungsform im Konzertsaal der "soziale Zwang des Verweilens" (bei diesem Projekt, das von vornherein so angelegt ist, daß wohl niemand alles hören kann) keine Rolle. Die utopische Anforderung an den Hörer ist bei dieser Dimension entmutigend, vor allem, da die 83 Stücke genauestens durchorganisierte und aufeinander bezogene Strukturen besitzen, die sowohl im Ganzen als auch in den einzelnen Teilen auskomponiert sind. Gerade der perssnliche Umgang mit dieser Überforderung und die daraus resultierenden individuellen Entscheidungen sind wesentlicher Bestandteil des Projektes. Der Umgang mit der Informationsüberlastung und die damit einhergehende Herausforderung der "Datenreduktion" bekommt hier eine größere Bedeutung. Norbert Bolz faßt in seiner Theorie der neuen Medien die dahingehenden Gedanken McLuhans folgendermaßen zusammen: "In »the mythic world of electronically processed data« ist es längst zur Alltagsnorm geworden, daß man Situationen der Informationsüberlastung gewachsen sein muß, in denen es stets darum geht, Konfigurationen zu erkennen. Deshalb hat McLuhan immer wieder Poes »A Descent into Maelstrom« als literarische Urzelle der neuen Medienwelt beschworen: Statt in Panik auszubrechen, sollten wir den gewaltigen Ursprungsstrudel der neuen Medien cool studieren. So wie sich jedermann heute der permanenten Informationsüberlastung nur durch eine ikonische Form des Gegenwärtigens gewachsen zeigen kann, so muß auch der Medienanalytiker - statt moralistisch protestierend gegen den Strom der electronically processed data zu schwimmen - auf rettende Konfigurationen achten." 

Spätestens seit Einführung der digitalen Medien kennen wir die entscheidende Rolle der punktuellen "Abtastrate" bei der Signalübertragung. Besonders deutlich wird dieser Schritt von der photographischen Bildfolge des Films zu den Zeilenrasterpunkten der digitalen Bildverarbeitung. Der einzelne Punkt enthält keinerlei Informationswert, erst das Zusammenstellen einzelner Punkte zu einem Datenfluß ergibt ein brauchbares Signal. Daraus ergibt sich auch für den Rezipienten eine neue Situation. "Von den Abermillionen Punkten pro Sekunde kann der Zuschauer nur einen Bruchteil durch ikonische Apperzeption auffassen und zu einem Bild formen. Er ist unentwegt gezwungen, die Felder des Bildschirms durch taktile Partizipation zu schließen." (nochmals N.Bolz) Wenn aber genau dieses Zusammenfügen zu einem wesentlichen Teil vom Rezipienten selber bestimmt wird, muß auch die Information zu einem noch größeren Teil als in der "literarischen Rezeption" von diesem abhängen. Dem Informationsüberfluß auf der einen Seite steht allerding die ausartikulierte Form auf der anderen Seite gegenüber. 

Die Medienkunst und die lineare Welt der "Gutenberg-Galaxie" stehen sich diametral gegenüber. Das Wesen der ersteren aber ist das playback einer früheren Gegenwärtigkeit, da die Medienkunst den unmittelbaren Zugriff auf alle Vergangenheiten ermöglicht. Das ins heimische Wohnzimmer transportierte Abbild ist dabei allerdings seiner speziellen Aura enthoben und wird zur geschichtslosen Geste; trotzdem neigen wir immer mehr dazu, das Abbild mit dem Abgebildeten zu verwechseln, ganz besonders in der Musik. Längst hat sich die Schallplatten/CD-Rezeption gleichwertig neben dem Konzertbesuch etabliert, mehr noch, die Ikone ist im Begriff das Original zu verdrängen, ohne dabei zu einem eigenständigen Kunstwerk zu werden. Fatal ist dabei, die durch den Verlust der Einmaligkeit entschwundene Aura durch ein möglichst "natur"-, bzw. "konzert"- getreues Abbild (was immer das sein mag?) zu ersetzen. Erst wenn die Reproduzierbarkeit selbst zum Gegenstand der Betrachtung wird, taugen die Mittel der Massenmedien zu einer künstlerischen Formung. Das Labyrinth der Orte und Zeiten, deren Abbilder sich zu einer neuen Einheit montieren und damit ihre Herkunft verfälschen - obwohl sie weiterhin die Geschichte dieser Herkunft transportieren - muß selbst zum Gegenstand der künstlerischen Formung avancieren. Die Narben und Furchen ihrer medientechnischen Vergewaltigung sollten nicht weiter verdeckt werden, sondern stehen als Zeuge einer geschundenen Aura. Alles Stille, Geformte, Meditative bleibt daher bis auf unabsehbare Zeiten den Medien fremd. 

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