Interview mit Vladimir Tarasov

Du gibst viele Konzerte, du arbeitest mit dem Philharmonischen Orchester, du spielst mit improvisierenden Musikern, das wechselt immer und ich denke, es muß schwer sein, zu sagen: heute mache ich dies, morgen das...

Für mich gehört das alles zusammen. Wenn ich zeitgenössische Musik mit dem Symphonie- oder Kammerorchester spiele, oder improvisierte Musik oder Jazz, ich persönlich verändere mich nicht. Ich stecke meine Energie in jede Art Musik, die ich spiele. Ich denke, ich spiele so, wie ich mit Heinz spiele, auch mit dem Finnischen Philharmonischen Orchester, wenn auch in anderer Athmosphäre. In der Philharmonie ist es immer sehr seriös mit Frack und so weiter, aber die Musik verändert sich nicht, die gleichen Empfindungen. Ich denke, es ist unmöglich, die Stimmungen in uns zu verändern; wenn wir das versuchen und in andere Arten Musik gehen, dann ist das FAKE. Sofort. Das merken die Zuhörer sofort. Das ist im Jazz ein großes Problem. Wenn mir jemand erzählt, die Leute verstehen die Musik nicht oder mögen die Musik nicht oder die Musiker klagen: 'es kommen keine Leute in die Konzerte' oder so was, dann denke ich, das ist nicht das Problem des Publikums, das ist das Problem der Musiker, der Künstler und es ist jetzt 1993, es ist auch ein Problem der Zeit.

Du kommst aus Osteuropa und der Kalte Krieg ist vorbei und die Grenzen sind offen. Da ist dieser große Wechsel. Wie wirkt sich diese Zeit, 1993, auf die Kunst aus?

Ich kann nur für mich reden. Für mich hat sich nicht so viel geändert, aber für die jungen Leute, die jungen Künstler, für die ändert sich viel.
Diese jungen Leute mit ihrer sowjetischen Mentalitität, östliche Mentalität ist etwas sehr spezifisches, weißt du, wenn die dann hierher kommen, sie denken, sie bekommen Geld, Konzerthallen und alles; nun vor allem bekommen sie erstmal einen großen Schock, wenn sie feststellen, daß sie nichts wissen und daß sie nichts bekommen; für sie ist es auf der einen Seite sehr gut, aber auf der anderen Seite...
Ob sich das Leben im kapitalistischen System oder in der Kunst verändert? Ich weiß nicht, ob sich für meine Generation viel ändert, aber für die Jüngeren. Ich weiß nur eins: ich war in der Opposition im kommunistischen System und wenn ich mir ansehe, was heute im Osten geschieht, besonders in Lithauen, dann bin ich immer noch in Opposition. Ich denke, das ist mein Problem: ich bin zu allen Systemen in Opposition und vielleicht gibt mir das etwas, um Kunst zu machen?
Ich kenne keinen Unterschied in der westlichen und der östlichen Musik, Musik ist Musik und das ist es. Ich kenne viele gute Musiker aus dem Osten und viele aus dem Westen, weißt du, wir reden jetzt nur über Jazz, aber Jazz ist nicht die ganze Kunst, wenn du andere Sparten nimmst, zeitgenössische Musik, klassische Musik, da sehe ich keine Unterschiede, im Jazz, ja, dann könnte man welche sehen....
Der Jazz hat sich in den letzten zehn Jahren total verändert und, das ist das Problem, der Jazz ist heute zu sehr Popmusik, zu kommerziell. Problematisch ist dabei, daß die jungen Leute in die Konzerte gehen und denken, das sei Jazz! So ist es doch: wenn Leute ins Konzert gehen und jemandem zuhören, ich will seinen Namen nicht nennen, also Musikern zuhören und diese Musiker machen perfekte Kopien von Miles Davis aus den Sechzigern, .. wir erinnern uns an das Original und wir wissen, daß das Fake ist, aber die jungen Leute denken, das ist echter Jazz und da liegt das große Problem. Kunst bringt den Menschen bei, wie das Leben ist und wenn sie es nicht vom Original lernen, sondern vom Fake, dann ändert das auch ihr Leben. Es ist ein Secondhand-Leben.
Man muß seinen eigenen Weg in der Kunst finden und das ist ein großes Problem, ein sehr großes Problem, denn im Moment ist die Musik in einer wirklich katastrophalen Situation. Ich erinnere mich, in den sechziger Jahren stand der Jazz an der Spitze der Entwicklung und alle anderen Künstler, Maler, Schriftsteller, Dichter, kamen zu den Konzerten und hörten zu... Die anderen Kunstrichtungen machten einen, ich sage es mit Coltrane, GIANT STEP, entwickelten sich weiter, aber der Jazz blieb stehen, als ob du pinkeln willst und nicht weißt, wie es geht.
Die Jazzmusiker sind da stehengeblieben, wo sie vor 20,25 Jahren angefangen haben. In den sechziger Jahren, zu Beginn der 70er waren sie offener und die Musik war echt, heute beuten die meisten Musiker ihre eigenen Ideen aus ihrer Jugend aus; aber es ist nicht zeitgerecht, es ist FAKE. Und Jazzmusik ist heute absolute kommerzielle Musik geworden, Musiker fangen an, viel Geld mit ihren eigenen Ideen zu verdienen und produzieren nichts Neues mehr, sie leben in einer anderen Zeit und ich sage nochmal: Heute ist 1993! Nicht 1952, Charlie Parker, nicht 1964/67, John Coltrane, Ornette Colman, nicht 71/72, als Miles Daves der Musik eine neue Richtung gab, heute ist 1993!
Wir müssen uns ändern, die Zeit ändert sich! Die Musiker wollen das nicht wahrnehmen, sie kopieren Miles Davis, aber Miles ist tot und seine Musik starb mit ihm. Ich liebe diese Musik, ich liebe Jazz, wenn er echt, original ist, wenn er aus dem Inneren kommt, und das kann man unmöglich kopieren, unmöglich neu rausbringen. Jeder hat sein eigenes Harmoniegefühl und wenn ich andere kopieren will, dann bringe ich mich selbst um. Das ist unmöglich.
Die jüngeren Jazzmusiker kennen den Unterschied zwischen, Variation und Improvisation nicht; 90% der jungen Leute meinen, sie improvisieren, aber sie variieren nur.... Improvisation ist, wenn du den Anfang und das Ende kennst, wenn du alle musikalischen Formen einfließen lassen kannst, Variation ist, wenn du zwei Takte spielst, mal so, mal so.
Und alle scheinen auf einen neuen Messias zu warten, einen neuen Coltrane oder Charlie Parker. Als wir anfingen war Geld war nicht das wichtigste, aber jetzt mußt du Geld machen, du kannst nur die Musik machen, für die Geld kriegst, und das ist tragisch für diese Musik, das ist sehr gefährlich für die Kunst. Und so machen es viele. Ich sage nicht 100%, aber 50% der Künstler, nach einiger Zeit gehen sie in den Kommerz, versuchen Geld zu machen mit dem, was sie gelernt haben, ein Musikstil, ein Malstil und dann für den Rest des Lebens so weitermachen! Und natürlich wird man sehr populär damit, man spielt auf berühmten Jazzfestivals, aber es ist immer das Gleiche.,
Es ist ja schon gut, wenn man das macht, was man vor 25 Jahren gemacht hat, aber manche Musiker kopieren Musiker, die vor 25 Jahren gestorben sind. Das ist eine Katastrophe.
Früher hatten wir die Einteilung: Amateure, Profis und Meister. Und die meisten Jazzmusiker wollen nicht zu den Meistern gehören, blieben auf der Profi-Ebene, sehr perfekt, sehr professionell, sehr gute Technik, aber wo bleibt die Musik? Tut mir leid, aber für mich ist es dann interesanter, ein Buch zu nehmen und zu lesen.
Mit dem Ganelin-Trio spielten wir polystilistische Musik, viele unterschiedliche Musikstile haben wir da hineingepackt, Kammermusik, klassische Musik, Folk und alles, aber : wenn du keine Erfahrung in deinem Gepäck hast, dann ist es nur ein kleiner Schritt und du bist im Ekklektizismus; Polystilistik und Ekklektizismus, das ist ein feiner Unterschied, eine Gratwanderung. Damals, zur Zeit des Ganelin-Trios spielte ich zur gleichen Zeit Musik von Karl-Heinz Stockhausen, Pierre Boulez; ich finde es am besten, wenn Musiker auch in klassischer und zeitgenössischer Kammermusik ausgebildet sind, das ist schwieriger als Jazz, das ist eine ganz andere musikalische Form, ganz anderes Konzept, aber das mit der Sprache des Jazz zu mischen, das ist für mich das Beste. Wenn du diese Musik interessant und konstruktiv spielst, mit Konzept, aber ATTACK!, mit deiner Seele und deiner Inspiration, die aus dem Jazz kommt, das ist das Beste!
Ich denke, Musiker müssen den anderen Künsten gegenüber offener sein. Ich sehe keinen Unterschied zwischen Kunst und Leben, das ist identisch. Was du in der Kunst machst, ist das gleiche was du in deinem Leben machst! Wie wir in der Kunst sind, so sind wir auch im Leben. Ich glaube nicht an diese vielen Legenden, daß jemand ein guter Musiker war, aber in seinem Leben ein Terrorist. Das ist Fake! Er ist immer der Gleiche!

Der Jazz steckt also im Moment in einer Sackgasse?

vielleicht in einer Einbahn-Straße. Jazz war das Zentrum der zeitgenössischen Kunst, aber dann danach gingen alle und öffneten andere Türen, nur der Jazz blieb stehen. Die Zeiten haben sich geändert.

Und wo siehst du heute das Zentrum?

Ich denke, heute liegt das Zentrum mehr bei den visuellen Künsten. Malerei, Installationen, das finde ich für mich interessanter. Wenn ich die Wahl habe, in ein Konzert oder ein Museum zu gehen, dann gehe ich in ein Museum. Ich gehe nicht mehr in Jazzkonzerte, sorry. Aber ich gehe in die Peking Oper z.B., ich höre mir ein Symphonie Orchestra an, aber keinen Jazz mehr,

Da denke ich an Kabakov's Idee der 'Totalen Installation', wo alle Künste zusammenkommen, Teil des Lebens sind

Das ist eine gute Antwort auf die Frage: Was ist eine Installation? Das ganze Leben ist eine Installation! Aber wer macht sie (lacht) Wer hat das gebaut, wer hat alles, was in uns ist, gemacht?

Wer?

Ich habe keine Antwort. Wer weiß, warum wir hier sind?
Nun, im 20. Jahrhundert, in der zweiten Hälfte, ist der technische Fortschritt enorm vorangekommen, phantastisch, rasend schnell, TV, Computer, Autos.. gewaltige Schritte, aber in der gleichen Zeit ist der menschliche Intellekt runtergekommen.
Absolut. Als Idee ist das alles gut, aber wenn ich das Fernsehen einschalte, werde ich nach zwei Minuten dumm. Nur Reklame und diese stupiden Porno-Sendungen. Jeden Freitag Tuttifrutti... und genauso ist es mit den politischen Nachrichten. Wer weiß denn, was die Wahrheit ist, Und da sehe ich ein Problem, vor allem für die jüngeren, die werden doch formatiert... Ihr Geist, ihr Verstand, natürlich werden sie dumm. Das ist sehr gefährlich.
Wo liegt denn der Unterschied in der Musik des ausgehenden 18. Jahrhunderts und der von heute? Eine Symphonie dauerte damals eine oder 2 Stunden, heute schreibt der Komponist für 20 Minuten. Die Leute haben keine Zeit, Zeit ist knapp und das ist das Problem. Sie wollen alles als Kondensat, alles ganz schnell, ganz kleine Happen. Aber in der gleichen Qualität. Die große Form ist eine ganz andere Sache. Keiner arbeitet heute mehr mit großen Formen!
Es gibt nur eine Möglichkeit: für die Leute zu spielen, nicht vor den Leuten! Für mich ist das ein großer Unterschied. Wenn du immer spielst, was die Leute hören wollen, ich denke nicht, daß das gut ist für die Kunst, und für die Leute auch nicht. Weißt du, Kunst ist auch Lehre, wie mit Büchern z.B. Es macht einen Unterschied, ob du James Bond liest oder z.B. Günter Grass oder Dostojewski, ob dein Geist auf diesem Level oder auf einem anderen Level arbeitet.

Weshalb gibt es dann aber doch immer wieder welche, die hören und sehen wollen?

Ich weiß nicht, vielleicht schafft Gott sie. Aber es stimmt, was wir gesagt haben, trifft nicht auf alle zu, es ist eine Tendenz und natürlich gibt es immer Leute und Künstler, die lernen, arbeiten. Publikum und Musiker.

Wie war das denn, als du anfingst Musik zu hören, in Arkhangelsk, in Nordrußland; da hattest du nur geringe Chancen an Musik zu kommen. Wie hast du das gemacht?

Ich habe alle Platten, die ich hören wollte, einen oder zwei Monate, nachdem sie in den USA in die Läden kamen, gehört! Denk dran, ich bin in Arkhangelsk geboren, eine Hafenstadt; ich habe im Seamen's Club gearbeitet, viele meiner Freunde waren Seeleute, und Seeleute machen immer Geschäfte und es ist egal für sie, ob sie Platten oder Jeans verkaufen. Platten sind besser, nehmen weniger Platz weg und bringen mehr Geld als Jeans oder Kaugummi. Ich hatte den Swan-Katalog und bestellte jeden Monat was ich haben wollte, Coleman, Coltrane. Ich hatte alle Informationen.
Ich glaube den Menschen in kommunistischen Systemen nicht, wenn sie sagen, daß sie keine Informationen bekamen. Wenn du wolltest bekamst du sie auch. Ich erinnere mich, daß ich mich mit einem amerikanischen Musiker unterhielt und ich wußte mehr über Jazz als er. Ich spielte ihm Platten vor und führte ihn in die Musik von John Coltrane ein! Ich bekam auch Bücher über moderne Kunst. Natürlich habe ich mein ganzes Geld da reingesteckt und dafür gearbeitet.
Mit 18 las ich Solschenitzin, Archipel Gulag, es gab alles. Wenn du wolltest, kamst du an alle diese Dinge ran. Wenn du aber passiv bliebst, nach Moskauer Art die ganze Zeit in der Küche sitzen und diskutieren, das ist natürlich eine andere Art zu leben.

Die Moskauer Küche

ja, aber es gab verschiedene Küchen! Ich habe auch einen großen Teil meines Lebens in der Küche verbacht, aber das war nach der Arbeit, nach dem Konzert, nach der Ausstellung.
Für viele Leute ist das der größte Teil des Lebens, vom Morgen zum Morgen, Wodka, Tee, über Politik reden aber sie haben nicht versucht, etwas zu ändern. Ich meine nicht, daß sie im Land etwas ändern sollten, wir lebten im kommunistischen System, das war unmöglich, aber man konnte nachdenken, analysieren, warum das so war und das ist ein großer Schritt.
Viele erlitten einen großen Schock, als die kommunistischen Systeme zusammenbrachen, aber ich denke, es war nur ein Schock für die, die an das System glaubten, wenn du gelesen und nachgedacht hast, dann war das kein Schock. Man muß analysieren.

Und du hast in deiner Küche Bilder gesammelt, ich habe bei dir große Sammlung russischer zeitgenössischer Maler gesehen. Wie bist du in Kontakt mit ihnen gekommen? Wie hat das angefangen?

Als ich Arkhangelsk verließ, bevor ich nach Vilnius kam, lebte ich in Leningrad und Moskau, und die Maler dort wurden gute Freunde. Wir fingen in den Sechzigern an, zusammenzuarbeiten; Maler, Dichter, man ging zu Ausstellungen, zu Konzerten, an schmutzigen Orten, das war nichtoffizielle Kunst. Es war ein kleiner Kreis, wir leben seit dieser Zeit zusammen.
Und nun sind meine Freunde sehr bekannte Künstler geworden. Ich bin kein professioneller Sammler, keines meiner Bilder habe ich gekauft, jeder dieser Maler ist Teil meines Lebens. Meine Wohnung hatte sogar einen Namen: 'der westlicheste Punkt der russischen Avantgarde'! ich habe kein einziges Bild, dessen Maler ich nicht persönlich kenne. Vor 15 Jahren lebten alle in Moskau, Leningrad und Vilnius, jetzt ist die Welt offener; einer ist in New York, der andere in Köln, einer in London, aber das ist gut für mich. Maler bleiben immer an einem Platz, aber ich bin immer unterwegs. In jedem Land habe ich wirklich gute Freunde. Wenn ich will, lebe ich im Hotel, wenn ich will, wohne ich bei ihnen.
Ich bekomme oft Einladungen zu Ausstellungen von Museen. Ich stelle auch aus. Mein Traum ist, eine große Wohnung zu haben mit vielen Zimmern, wo ich sie alle an die Wände hängen kann, jetzt liegen sie zum Teil noch unterm Bett, stehn hinter dem Schrank,

kein freier Quadratzentimeter an deinen Wänden

das ist ein Teil der russischen Kultur: in jener Zeit war es ein Bestandteil meines Lebens. Ich spielte Konzerte für meine Freunde, sie malten ein Bild für mich; aber jetzt, nach 25 Jahren, denke ich, ist es Teil der Geschichte geworden, wie ein Archiv, ein wirklich gutes Archiv der modernen russischen Kunst. Ich denke, ich werde diese Sammlung später einem Museum geben. Im Moment gehört es mir alleine, es war privat, als wir Freunde waren, aber meine Freunde sind jetzt alle berühmte Künstler und ich möchte, daß auch andere Leute das sehen.

du kannst dich noch nicht davon trennen

nein, es ist noch Teil meines Lebens, später ...
Das ist Kunst, die in den Sechzigern begann. Aber was interessant ist, wie wir es beim Jazz gesagt haben, viele Leute versuchen auch hier ihre Ideen aus dieser Zeit auszubeuten. Das funktioniert auch nicht.
In den Jahren damals gab es eine große 'Welle', überall in der Kunst, im Jazz auch, vielleicht ist ja in dieser Zeit irgendetwas aus dem Kosmos gekommen, das passierte überall auf der Welt, aber jetzt ist es anders,

jetzt ist Ebbe?

ja..... vielleicht?


Dieses Interview wurde 1993 mit Vladimir Tarasov geführt und in der Jazzthetik, Zeitschrift für Jazz und Anderes, in der November-Ausgabe 1993 veröffentlicht.

© Cornelie Müller-Gödecke

zurück zur 1. Tarasov-Seite Theater-Akademie Interstudio Zurück zur Musik-Seite


Avantart's URL: http://www.avantart.de