Intertextuelles Schreiben: Ein Klassiker als Plagiator

Unter den zahlreichen Artikeln zu Tolstois Hundertstem ragt ein Essay von Felix Philipp Ingold heraus, der, beim Perlentaucher veröffentlicht, nicht die großen Werke wiederkäut und einordnet, sondern eine Verbindung zwischen Tolstois Schreibtechnik  seiner letzten Jahre und heute gängiger Schreibpraxis sieht:

Das Einzugsgebiet von Lew Tolstojs Aneignungsinteresse reicht – quer durch alle Epochen und Kulturen – vom Talmud und den Vorsokratikern über arabische Sprichwörter und indische Weisheiten bis in die europäische Moderne: Anton Tschechow und William Butler Yeats stehen als Zeitgenossen am Ende einer langen Reihe von Beiträgern, zu denen u.a. Luther, Emerson, Thoreau, Seneca, Konfizius, Amiel, Gogol, Epiktet, Saadi, Pascal gehören. Fremdes Gedankengut amalgamiert Tolstoj bedenkenlos mit eigenen Ideen und Meinungen, Fremdzitat und Selbstaussage werden bis zur Ununterscheidbarkeit verschliffen, das Arrangement vorgefundener Texte wird aufgewertet zu einer auktorialen Geste, die nun also nicht mehr auf Diskursbegründung, vielmehr auf Diskursverschmelzung angelegt ist. Damit führt Lew Tolstoj ein intertextuelles Schreibverfahren vor, das erst viel später zur gängigen literarischen Praxis werden sollte und das heute wieder – angesichts von Plagiaten und Imitaten aller Art – weithin zu reden gibt.

Der Autor verschwindet in diesen Texten hinter den durchmischten und dadurch fast autorlos gewordenen Zitaten und Extrakten anderer, nur die Auswahl der Texte und deren Verflechtung vermag noch als „Handschrift des Autors“ durchzugehen.

Unter denen, welche dafür die entsprechende autorlose Rhetorik eingespurt haben, gehörte – noch vor James Joyce, T. S. Eliot und dem französischen Meisterplagiator Louis-Rene des Forêts – der alte Lew Tolstoj mit seinen „Lesebüchern“, deren einstige Botschaft weitgehend obsolet geworden ist, die aber in ihrer Machart vorbildlich sein können für die als „Rewriting“ oder „Überschreibung“ praktizierte Verarbeitung fremder Texte, wie sie heute gang und gäbe ist.

Quelle: Perlentaucher, 21.11.2010, https://www.perlentaucher.de/artikel/6599.html