Deutscher Geist und russische Seele

Sankt Petersburg als Drehscheibe eines aussergewöhnlichen Kulturtransfers

Die Vitalität einer nationalen Kultur erweist sich nicht zuletzt darin, ob und inwieweit sie in der Lage ist, fremde Einflüsse aufzunehmen, sie sich anzueignen und fortzuentwickeln. Russland ist in dieser Hinsicht eine zwiespältige Ausnahmeerscheinung, denn nirgendwo sonst haben während Jahrhunderten kulturelle Fremdimporte ein solches Ausmass angenommen. Gezeigt sei dies am Beispiel der alten Hauptstadt Sankt Petersburg.

Felix Philipp Ingold

Als die markanteste unter mehreren Importwellen, die Russland in sich aufgenommen hat, gilt die forcierte, auch durchaus gewalthafte «Europäisierung», durch die Peter I. (der Grosse) in den Jahrzehnten um 1700 das Zarenreich zu einer westlichen Grossmacht aufrüstete und zumindest vorübergehend an die Moderne anschloss. Um diesen kulturgeschichtlichen Entwicklungssprung erfolgreich durchzuführen, war der Zar, der Westeuropa bekanntlich inkognito als «Zimmermann» bereist und sich dabei in mancher Hinsicht kundig gemacht hatte, auf ausländische Fachkräfte wie auch auf aktuelles Know-how und neueste Technik angewiesen.

Schon lange vor der «Europäisierung» hatten Ausländer unterschiedlichster Herkunft im Zarenreich Beschäftigung und eine neue Heimat gefunden. Dass man die Zuwanderer meist pauschal als «Nemzy» (Deutsche) bezeichnete, lässt darauf schliessen, wie dominant der deutsche Anteil an der Immigration gewesen ist. Im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts nahm die Präsenz der Deutschen in der russischen Verwaltung, der Armee, den Wissenschaften und Künsten so markant zu, dass selbst der umsichtige Historiker Sergei Solowjow sich dazu veranlasst sah, von einem «Germanenjoch» zu sprechen. Sogar das Herrscherhaus der Romanow war zuletzt, als Folge langfristiger heiratspolitischer Vorkehrungen, vollständig «eingedeutscht». In den Akten einer internationalen Tagung der Universität Potsdam zum deutsch-russischen Kulturtransfer («Sankt Petersburg: der akkurate Deutsche», Verlag Peter Lang, Bern 2007) finden sich diverse Beiträge – Übersichtsdarstellungen wie auch Einzeluntersuchungen –, die den deutschen Einfluss auf das Kunst- und Geistesleben Russlands durch umfängliches Beispielmaterial belegen.
Programmatische Modernisierung

Dass die programmatische Modernisierung Russlands durch die Errichtung einer neuen Metropole – mit europäischem Personal, nach europäischen Vorbildern – beglaubigt werden sollte, entsprach dem persönlichen, mit letzter Konsequenz und ohne Rücksicht auf Verluste durchgesetzten Willen Peters I. Auf russischer Seite standen dafür enorme Geldmittel und Armeen von Zwangsarbeitern, nicht jedoch das theoretische und technische Wissen zur Verfügung. Dieses wurde durch die Berufung zahlreicher Fachleute aus dem westlichen Ausland – Stadtplaner, Baumeister, Ingenieure, dazu Gelehrte aller Fakultäten – beschafft und systematisch eingesetzt.

Mit dem ebenso kurzfristigen wie aufwendigen Bau Sankt Petersburgs im sumpfigen Mündungsgelände der Newa, mit zahlreichen administrativen Reformen, mit der Neuordnung und Aufrüstung der Streitkräfte, aber auch mit der Einrichtung von wegweisenden wissenschaftlichen und kulturellen Institutionen hat Zar Peter dargetan, wie weitgehend sein Land in der Lage war, «Fremdes» ins «Eigene» zu transformieren: Nichts an der neuen exzentrischen Hauptstadt, nichts an den neuen technischen Errungenschaften, nichts am neu initiierten Wissenschafts- und Kunstbetrieb war «russisch», und doch konnte alles – so fremd und phantastisch es auch war – als für Russland «typisch» gelten, und dies gerade deshalb, weil die russische Kultur ihre eigentliche Bestimmung schon immer in der Rezeption und nicht in der Produktion gefunden hat.

Wenn Nikolai Gogol die nördliche russische Hauptstadt späterhin mit einem «akkuraten Deutschen» verglichen hat, ist das keineswegs verfehlt und nicht einmal übertrieben. Denn vorwiegend deutsche Architekten, Techniker und Handwerksmeister waren es, die – neben und nach dem Tessiner Generalstadtplaner Domenico Trezzini – das strenge Petersburger Stadtbild prägten. Dafür stehen Namen wie Christoph Conrad, Theodor Schwertfeger, Johann Gottfried Schädel oder Andreas Schlüter. Als Bauführer und Gartengestalter der Zarenresidenz Peterhof mit Schloss Monplaisir, der Grossen Wasserkaskade und einem Skulpturenpark wirkte der Nürnberger Architekt Johann Friedrich Braunstein, als erster Hofgärtner wurde aus Brandenburg Johann Busch engagiert. Auch der frühe Petersburger Brückenbau – die Errichtung der ersten Stein- und Hängebrücken – lag in deutschen Händen, und bis zum Ersten Weltkrieg, also während fast zweihundert Jahren, wurden immer wieder deutsche Architekten (neben Italienern und Franzosen) mit grossen repräsentativen Bauaufträgen betraut.

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass auch der «neorussische» Historismus des mittleren und späten 19. Jahrhunderts, mithin die Renaissance einer russischnationalen Baukunst, mehrheitlich aus deutscher Tradition gespeist und von deutschen Entwerfern konzipiert wurde, unter denen Heinrich Gustav Clemens (gen. Andrei) Stackenschneider, Alfred Parland und Konstantin Thon die namhaftesten waren. Nicht weniger prominent als im Praxisbereich der Architektur und des Ingenieurwesens war die deutsche Präsenz in der ebenfalls von Peter I. initiierten russischen Wissenschaftsentwicklung. Als massgebliche Experten und Berater wirkten Gottfried Wilhelm Leibniz und Christian von Wolf, die dem Zaren ihre Projekte für die Organisation eines zeitgemässen Wissenschaftsbetriebs unterbreiteten und damit zu den spiritus rectores der 1725 eröffneten Akademie der Wissenschaften wurden.
Eklatantes deutsches Übergewicht

Von 13 Berufungen gingen damals deren 9 nach Deutschland. Eröffnet wurde die Petersburger Akademie mit einem Festvortrag des Tübinger Philosophen und Physikers Georg Bernhard Bülfinger, als Protokollführer und Sekretär der Akademie fungierte der aus Königsberg stammende Mathematiker Christian Goldbach, der nachmals Privatlehrer des künftigen Zaren Peter II. und schliesslich, als Chiffrierungsexperte, Mitarbeiter des russischen Aussenamts wurde. Mit Christian Buxbaum gewann die Akademie einen namhaften Botaniker, der auf Expeditionen in den Kaukasus, ans Kaspische Meer und nach Südsibirien erstmals die einheimische Flora und Fauna erforschte – ihm hat Russland die ersten botanischen Abhandlungen zu verdanken.

Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte die Petersburger Akademie 111 Mitglieder, davon stammten 67 aus Deutschland. Doch nicht nur quantitativ waren deutsche Gelehrte – zu denen auch der aus der Schweiz stammende Mathematiker Leonhard Euler gezählt wird – in eklatantem Übergewicht, sie stellten damals und auch späterhin die international anerkannte Elite der noch jungen Akademie, sei es mit herausragenden Naturforschern wie Johann Georg Gmelin, Peter Simon Pallas, Johann Gottlieb (gen. Iwan Iwanowitsch) Georgi, sei es mit Historikern wie August Ludwig von Schlözer oder Gerhard Friedrich Müller (gen. Fjodor Iwanowitsch Miller), deren Beiträge zur russischen Geschichtsschreibung noch heute zum «vaterländischen» Erbe gezählt und immer wieder nachgedruckt werden.

Eine Vielzahl von deutschen Gelehrten, Ärzten, Pädagogen, Verlegern, Druckern, Technikern, Architekten, Musikern, Theaterleuten und sogar Dichtern wären zusätzlich namhaft zu machen, die im Zarenreich aktiv gewesen sind und damit zur russischen Kulturentwicklung Bleibendes beigetragen haben. Auffallend an diesem intellektuellen Fremdimport ist überdies die Tatsache, dass er in Russland oftmals Pionierleistungen provozierte; auffallend auch, in welchem Umfang deutsche Ideen und Werke sich mit russischen Bedürfnissen und Besonderheiten haben verbinden können: Nicht nur die «andere russische Hauptstadt» oder der «neorussische» Epochenstil, auch das russische «Slawophilentum» und selbst die ominöse «russische Seele» sind zutiefst von deutschem Geist imprägniert.


Dieser Artikel wurde veröffentlicht in der Neuen Zürcher Zeitung. Ich veröffentliche ihn hier mit Ingolds Erlaubnis.