lange Lese-Unterbrechung und Schreib-Pause

Hier im Lesebuch war es nun schon sehr lange ruhig. Und je länger es ruhig ist, umso höher die Schwelle, den Blogbetrieb wieder aufzunehmen.

Warum aber war es so still? Nun, ich befinde mich immer noch im Umbruch, auch im letzten Jahr meiner „passiven“ Altersteilzeit habe ich mich noch nicht so umstellen können, daß ich nur noch meinen Vorlieben fröne, mehr Zeit fürs Lesen finde und auch darüber schreibe, zum Anderen habe ich hier in meiner neuen Umgegend in Ostvorpommern neue Aufgaben gefunden, die mich doch sehr beschäftigt haben.

Es wurde ein Kunst- und Kulturrat Vorpommern-Greifswald gegründet, ich habe die Web-Betreuung dafür übernommen und bin mittlerweile auch im Vorstand.
Im Sommer habe ich eine Webseite zum hundertsten Geburtstag der Usedomer Malerin Susanne Kandt-Horn erstellt, auch ein gehöriges Stück Arbeit.
Ich habe die technische Betreuung eines EU-Projektes für die hiesige Region übernommen, ein internationales Projekt im Rahmen der „Business Culture Partnership“, eine zweisprachige Crowdfunding-Seite, die nun an den Start geht. Das war viel Arbeit und es wurden sogar Reisen erforderlich, da die Entwickler in Litauen sitzen. So flog ich also letztes Jahr gleich zweimal nach Litauen, und das hat mir Appetit auf nochmehr Baltikum gemacht. Also war ich im August / September und im Dezember, dann aber mit Familie, zweimal in Riga und habe mein Herz für diese Stadt entdeckt. Und in Wolle und Strickwaren geschwelgt.

Zur Zeit werden gerade die Grundlagen für die nächsten Förderperioden der EU-LEADER-Vorhaben gelegt, „Entwicklung im ländlichen Raum“. Und da hier in Ostvorpommern der Raum sehr ländlich ist und der Bereich „Kultur“ nicht unbedingt in den Köpfen aller präsent ist, sind wir auch hier bei den Meetings, Workshops etc. in Anklam und Wolgast involviert. So haben wir es erreicht, aus dem Handlungsfeld „Natur / Kulturerbe“ in den beiden genannten Bereichen „Kulturerbe“ durch „Kultur“ zu ersetzen, sonst wäre keinerlei Förderung jenseits von Denkmalpflege möglich geworden. Das kostet natürlich auch Zeit und Engagement, die fremde Begrifflichkeit, die unterschiedlichen Akteure in der Region, das ist alles neu und man möchte ja auch was erreichen…

Alte ägyptische SockenAber ich will mich nicht mit „Arbeit“ herausreden.

Neue, andere Interessen haben sich in den Vordergrund gedrängt, ich habe das Stricken wieder neu entdeckt und zwar als immaterielles Kulturgut, als eine Kulturtechnik mit vielen Facetten und Ausprägungen. Bei der Nähe zum Baltikum eigentlich kein Wunder. Und so habe ich sehr viel Fachliteratur / Strickliteratur gelesen, die nicht unbedingt der Belletristik zuzuordnen geht, aber ebenso spannend und vielseitig ist.

Der Niederschlag dieser Beschäftigung findet sich in meinem Strick-Kultur-Blog Wockensolle.de

Ich habe natürlich trotzdem gelesen, wenn auch nicht so viel wie früher. Und ich habe hier nicht geschrieben, damit habe ich, wie ich weiß, einige meiner Leser enttäuscht.

Damit mein schlechtes Gewissen mich nicht noch mehr blockiert, habe ich heute ersteinmal die Installation hier aktualisiert und dann werde ich die Liste der zuletzt gelesenen und vorstellenswerten Bücher „abarbeiten“. Auf jeden Fall.

Ein großer Mann, ein großes Leben

Reich-Ranicki: Notwendige GeschichtenMarcel Reich-Ranicki lebt nicht mehr.

Er hat mich Lesen gelehrt. Nicht die Technik, das Entziffern der Buchstaben, nein das Lesen der Worte. Literatur lehrte er mich, nicht meine Lehrer. Eines der ersten Bücher, das ich mir von meinem Taschengeld gekauft habe, war „Notwendige Geschichten 1933-1945“.  Piper, 1967

In dieser Anthologie, heute noch eingeschlagen im Folien-Umschlag von damals, versammelt er jahresweise Geschichten aus der dunklen Zeit Deutschlands, Geschichten von Autoren der verschiedensten Standpunkte, Geschichten, die zu lesen notwendig war und ist. Um die Zeit verstehen zu können, das Leben verstehen zu können.

Viele Geschichten aus diesem Buch sind mir noch gegenwärtig, viele vergessen. In einem alten SPIEGEL-Artikel von 1967 bespricht einer der Autoren, Albrecht Goes, diese Sammlung. Wie schrieb man damals? fragt er.

„Notwendige Geschichten“ — ein gutes Buch. Freilich, bis zu Hölderlins „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ werde ich mich bei seiner Betrachtung nicht versteigen; jenes Wort ist ja auch keine Maxime, sondern der Atemzug eines Ertrinkenden. Soll ich sagen: es sei etwas wie ein Beispiel, dieses Buch? Oder: es sei eine Warnung? Eine Warnung, gewiß. Aber wer will sich schon durch Bücher warnen lassen?

Reich-Ranicki war mein Cicerone in die Literatur, lange bevor er als Person auf den Bildschirmen erschien, lange bevor es das Literarische Quartett gab. Ich las die von ihm empfohlenen Autoren, hörte seine Beiträge im Hessischen Rundfunk, las die Frankfurter Anthologie der FAZ und wenn ich heute darüber nachdenke, kommt mir fast der Gedanke, er habe mich zum Studium der Germanistik, der Literaturwissenschaft, gebracht, nicht meine Mutter mit ihrem Bücherschrank voller Klassiker und den ehemals verbotenen Büchern in der 2. Reihe darin.

Durch ihn kam ich von Stefan Zweig zu Arnold Zweig, der lag mir eher.
Von Thomas Mann zu Heinrich Mann, der paßte mir auch besser.
Sicherlich lenkte er mich zu Koeppen.
Trotz seiner Antipathie Musil gegenüber quälte ich mich durch den Mann ohne Eigenschaften, dem Studium geschuldet. Aber daß ich den M.o.E. nicht mochte, war sicherlich nicht zu 100 Prozent mein eigenes Urteil.

Das Literarische Quartett schaute ich mir nicht so gerne an, ich wollte lieber in Ruhe lesen, Primär- oder Sekundär-Literatur. Ich war ja auch nicht die Zielgruppe seiner Sendung. Ich war ja schon überzeugt.

Jetzt habe ich etliche Sendungen im TV gesehen, die zu seinem Nachruf wieder aus den Archiven geholt wurden. Und zu der Vertrautheit, die ich ihm gegenüber empfand, kam die Freude über seine Lebhaftigkeit, seine Direktheit. Wo andere in Tränen ausbrechen oder in Weinerlichkeit versinken, ging er mit „Na Ja“ zum nächsten Thema über, statt Betroffenheit forderte er von allen, die er erreichte, eigenständiges Denken und Urteilen.

Sein letztes öffentliches Urteil war wohl die Nicht-Annahme des Fernsehpreises vor einigen Jahren, eine spontane Entscheidung, die aus dem Entsetzen über die unglaubliche Banalität der Veranstaltung entstand und die er standhaft durchhielt.

Ich habe durch ihn Urteilen / Beurteilen gelernt, ich habe von ihm Literatur / Welten geschenkt bekommen, er hat meinen Lebensweg sicherlich mitbeeinflußt.

Mein ganzes Lese-Leben lang war er da.  Nun nicht mehr.

Kurz angestochen…

Stichworte stechen, also angestochen


 flandziu-titelkopfFlandziu – Halbjahresblätter für Literatur der Moderne
Neue Folge, Jahrgang 4, Heft 2 -2012 (Frphjahr 2013)

Das neue Heft ist (verspätet) erschienen, behandelt das Thema „Deutsche Literatur 1945 – 1960„. Im zweiten Teil dieser Serie geht es um die Jahre 1953 – 1960. Die literarische Produktion dieser Jahre hat meine literarische Sozialisation geprägt. Neben Autoren wie Günter Eich, Uwe Johnson, Kaschnitz, Grass widmet sich das Heft auch aufschlußreich dem Thema „Groschenromane, Heftchen, Comics und die Schmutz- und Schund-Debatte„. Das hat mich besonders interessiert, denn als Studentin habe ich mir, wohl um den Schundcharakter dieser Veröffentlichungen, so einige Reisen mit dem Schreiben von Groschenromanen verdient. Das war leicht, die Struktur war klar vorgegeben und von 800 DM Honorar konnte ich mindestens 2 Monate auf Tour in den Süden gehen.


Hugo Marti Ich habe einen für mich seither unbekannten Schriftsteller kennengelernt: der Schweizer Hugo Marti war Jurist und Germanist, arbeitete als Hauslehrer und schrieb etliche, nunmehr fast unbekannte Werke.

Ein Sammelband seiner Werke ist gegenwärtig auf dem Buchmarkt zu finden:

‚Die Tage sind mir wie ein Traum‘ für 96,00 €. Ansonsten findet man einige gebrauchte Ausgaben oder Nachdrucke.

Ergiebiger ist da das Angebot im Ebook-Format:  Als Kindle-eBook finde ich von ihm 11 Werke,  bei Gutenberg ebenfalls 11 seiner Werke.

Ich habe seit Buch „Das Haus am Haff“ entdeckt. Dann fand ich das Autorenporträt bei Charles Linsmayer und nun lese ich mich durch seine Texte.

Wieder einmal eine Entdeckung, die nur per eBook gelingen konnte.


Und noch etwas zum Schluß:

Vom faulen Mädchen

Im Frühjahr fiel mein Blick bei einer Suche bei ZVAB  auf die rechte Seitenleiste und da schaute mich ein sehr vertrautes Mädchen samt fröhlicher Katze an.

Dieses Buch besitze ich und liebe ich seit meiner Kindheit, damals bekam ich von meiner Großtante in der DDR immer wunderschöne Bücher. Für liebevolle Buchausgaben mit herrlichen Illustrationen waren die Länder des Ostblocks ja bekannt.

Vom faulen MädchenVom faulen Mädchen

Märchen nach dem tschechischen Zeichentrickfilm „Lenora
Regie:  Zdeněk Miler
Text: Emil Ludvik
Copyright 1957 by Artia Prag

 

Und mit einem Bild aus diesem Buch beende ich diesen Beitrag-

Vom faulen Mädchen

Tristram Shandy, Gentleman

Ich bin immer noch nicht durch. Das liegt daran, daß ich den größten Teil des Buches vorlese.
So haben mein Mann und ich den größten Spaß daran.
Aber mehr als ein, zwei Kapitel kann man nicht auf einmal vorlesen. Das Vorgelesene muss ja auch goutiert werden.

Inzwischen ist der Protagonist aber wenigstens geboren, wenn auch mit lädierter Nase.

Nasenkorrektur

Ab und an gibt es Zwischenlektüren, so der OstvorPommern-Krimi „Letzte Losung“, der es nur in mein Ostvorpommern-Blog Gribowski geschafft hat. Es gibt halt Bücher, die liest man und dann ist auch gut. Dieses Buch ist nun auf Wanderschaft, wers mag, kanns behalten.

Ganz anders war dagegen „Freitisch“ von Uwe Timm zu lesen. Auch dies spielt in OVP, aber es hat Tiefe. Es hat was mit uns zu tun, und kaut uns nichts vor. Die Besprechung dieses Bandes auch auf Gribowski.

 Aber eigentlich warte ich auf Alias oder das wahre Leben, das neue Buch von Felix Philipp Ingold.

rein und gut – ohne Zorn

steht auf dem Grabkreuz des Dichters Marek Hlasko auf dem Wiesbadener Südfriedhof.
Geschmückt ist die Grabstelle mit roten und weißen Blumen, den Farben Polens.
Marek Hlasko wurde nur 35 Jahre alt, lebte ein verzweifeltes Leben und starb 1969 in Wiesbaden an einer Schlaftabletten-Vergiftung.
Seine Erzählungen („Der achte Tag der Woche“, „Alle hatten sich abgewandt“ und andere) wurden ins Deutsche übersetzt und bei uns gelesen. In seiner Heimat Polen, aus der ausgewiesen wurde, wurden seine Werke nicht gedruckt.
So zornig wie seine Helden, so verzweifelt und gescheitert – so lebte auch er.

Heute gibt es keine seiner Romane und Erzählungen mehr im Buchhandel, der Film „Der achte Wochentag“ ist in Vergessenheit geraten, wer kennt ihn noch?

Als Schülerin las ich seine Bücher, am stärksten beeindruckte mich wohl „Alle hatten sich abgewandt“, die Verzweiflung, die Heimatlosigkeit – das ging mir nahe.
Ich erinnere mich auch an einen Mann in einem langen Regenmantel, der alleine und finster an der Theke im Wiesbadener „Jazzhaus“ stand. „Das ist der polnische Dichter“ flüsterte mir ein Kumpel zu, als ich nach dem Unbekannten fragte.

Dann sah ich auf dem Wiesbadener Südfriedhof sein Grab und fortan brachte ich ihm Blumen, wenn ich das grosselterliche Grab aufsuchte, manches Mal kam ich auch nur bis zu seinem Grab.

All das kam mir wieder in Erinnerung, als Hania Zdrojewska in einer Mail anfragte, ob ich ihr den Weg zu seinem Grab auf dem Wiesbadener Friedhof nennen könne. Das konnte ich nicht, aber das Friedhofsamt gab Auskunft und so konnte die polnische Germanistikstudentin das Grab aufsuchen.

Sie sandte mir Photos vom Grab und einen Plan des Friedhofs. Nun werde ich bei meinem nächsten Besuch in der alten Heimat sein Grab wiederfinden.
Südfriedhof

Nachtrag: Meine Buchhändlerin, Frau Herbst, hat Recht

Herman Bang
Herman Bang
Wenn Frau Herbst mir etwas empfiehlt, dann folge ich Ihrem Rat (meistens).

Dieses Mal empfahl sie mir „Herman Bang – Eines Dichters Letzte Reise“, Texte, Briefe von Herman Bang, Klaus Mann und Friedrich Sieburg.

Von Gustav Seibt wurde dieses Buch als literarische Kostbarkeit bezeichnet. Er hat ganz einfach recht.

Das Buch enthält ein Vorwort von Joachim Kesten, die Erzählung Der große Kahn von Herman Bang, einen Text von Klaus Mann, einen Brief von Bang an seinen Verleger, eine Reflektion von Friedrich Sieburg und den letzte Brief Bangs vor seinem Tode.

Ich kannte den Namen des Autors, wußte, daß meine Mutter viel von ihm gelesen hat, fand aber nichts im Regal und kann mich auch nicht erinnern, je etwas von ihm gelesen zu haben. Umsomehr spürte ich das Versäumnis, als ich die kurze Erzählung las, und habe dann auch gleich bei ZVAB bestellt, um diese Leselücke zu schließen.
Allein schon die Verlage, die seine Werke publizieren, Manesse und Insel Verlag, sprechen für die Qualität dieses Autoren.

Ich empfinde dieses Buch als Glücksfall, weil es in dichter Weise die Verknüpfung von Literatur und Leben aufzeigt. Und dadurch anrührt.

Hermann Bang: Herman Bang – Eines Dichters letzte Reise
Drei Erzählungen von Herman Bang, Klaus Mann und Friedrich Sieburg
Gebundene Ausgabe: 159 Seiten
Verlag: Arche Verlag (März 2009)
ISBN-10: 3716026093
ISBN-13: 978-3716026090

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