Wislawa Szymborska: Die drei seltsamsten Wörter

Sag ich das Wort Zukunft,


vergeht seine erste Silbe bereits im Zuvor.
Sag ich das Wort Stille,
vernichte ich sie.
Sag ich das Wort Nichts,
schaffe ich etwas, das in keinem Nichtsein Raum hat.


Wislawa Szymborska
Wislawa Szymborska


Wislawa Szymborska: Die Gedichte
Herausgegeben und übertragen von Karl Dedecius

Suhrkamp 1997, ISBN 3-518-40881-X


Wislawa Szymborska ist eine Meisterin der poetischen Pointe. Die meisten ihrer Gedichte folgen einem präzisen rhetorischen Aufbau und gipfeln in einem Schlusssatz, der die angesprochene Problematik im doppelten Sinn des Wortes verdichtet. Besonders spannend lesen sich jene Texte, in denen die Dichterin ihre eigene Kunst thematisiert. In diesen Fällen setzt Szymborska die Lyrik gewissermassen ins Quadrat: Schreiben und Geschriebenes werden zu zwei Faktoren, deren ambitiöses Produkt den engen Raum der fortlaufenden Sprachzeile sprengt. Die Prämie, die nach bestandenem Zweikampf mit dem weissen Blatt Papier winkt, ist in der Tat ansehnlich: „So gibt es also eine Welt, / deren unabhängiges Schicksal ich bestimme? / Eine Zeit, die ich mit Ketten von Zeichen binde? / Ein Sein beständig durch meine Verfügung?“ Und nun folgt in äusserster Verknappung eine Sentenz, die das zentrale Credo von Szymborskas Poetik benennt: „Freude am Schreiben. / Möglichkeit des Erhaltens. / Rache der sterblichen Hand.“

Ulrich M. Schmid in der NZZ

An die Musik: Anna Akhmatova

Anna Akhmatova
Anna Akhmatova

Wie schön. Die NZZ veröffentlich einen Text von Anna Akhmatova.

An die Musik

Sich wie ein Monstrum selber nur gebärend, Sich
selbst bewundernd, selbst erwürgend dann, Bist du nicht – leider – bloss das einzige Band Von Gut und Böse, Paradies und Erdenschwere? Mir scheint, du gehst zum Abgrund, stehst am Rand.

1965
Aus dem Russischen von Ralph Dutli

Ein Gedicht zum Tode

Ein Gedicht zum Tod von Andrej Wossnesenski

Ein Gedicht von Andrej Wosnessenski aus dem Band Wenn wir die Schönheit retten

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für A. Kosyrew


Lebt nicht im Raum, lebt in der Zeit,

für Minuten sind Euch Bäume anvertraut,

nicht die Wälder, die Stunden nehmt ein,

unterm Dach der Minuten zu sein,

und um Schultern, statt sie in Zobel zu kleiden,

der Minute Kostbarkeit breiten.

Wie asymmetrisch ist die Zeit!

Der Minuten kürzeste – die letzte,

die letzte Trennung – die längste …

Und schon fährst du ab in der Kiste,

Sei kein Strauß, verbohrt in Vergängliches, Wüste.

Im Raum ist das Sterben.

Das Leben in der Zeit.

Osteuropa

Nun war ich ja sehr oft in Russland und auch wenn dieses riesige Land sich bis in den Fernen Osten erstreckt, besitzt es doch einen sogenannten europäischen Teil. Die Grenze zwischen Europa und Asien verläuft entlang des Ural. Dies ist eine willkürliche Grenzziehung, entstanden aus historischen Gegebenheiten, und doch macht sie uns augenfällig, daß dort Osteuropa zu Ende geht.

Während meiner Reise in die Ukraine im vergangenen Winter erlebte ich in Lviv / Lemberg den Kontrast zwischen der zentraleuropäischen Vergangenheit, geprägt durch die österreichisch-ungarische Herrschaft, und der Gegenwart, die immer noch durch die Katastrophen des 2. Weltkrieges mit allen Folgen des Holocaust, der Bevölkerungsverschiebungen und Vertreibungen und die Katastrophe der Sowjet-Zeit geprägt ist.

Immer wieder jedoch scheint heute die Idee Zentraleuropas durch, der Dialog mit Polen, die Annäherung und die Furcht vor der Ausgrenzung aus Europa durch die Europäische Union. In Lviv erscheint eine hochinteressante Zeitschrift, Ï, die in ukrainischer, deutscher und deutscher Sprache herausgegeben wird. Die interessanten Themen dort machten wir deutlich, daß sich Europa in der Zeit seit 1989 grundlegender gewandelt hat, als wir es wahrnehmen (wollen).

Czarne Verlag
Czarne Verlag
Im zweiseitigen Denken der letzten 50 Jahre (hier Westeuropa und die Freiheit – dort Osteuropa und die Unfreiheit) wurde Zentraleuropa nicht wahrgenommen. Und meine geschichtliche und politische Sozialisation hat mein Weltbild und meine Vorstellungen geprägt, die nun langsam ins Wanken geraten, je mehr Zental- oder Mitteleuropa „zur Sprache kommt“. Ich bin fasziniert und neugierig, freue mich über die Diskurse in der deutsch-polnischen Zeitschrift TransOdra geführt werden und empfinde fast schmerzhaft daß hier die Themen sind, die unsere Gegenwart bestimmen.

Czarne Verlag
Czarne Verlag
Schmerzhaft empfinde ich, daß ich viele der Beiträge nicht verstehen kann, da ich kein Polnisch und Ukrainisch oder zu wenig Russisch verstehe, und deshalb beispielsweise die interessanten Veröffentlichungen aus dem Czarne Verlag von Andrej Stasiuk, der nicht nur ein wunderbarer Erzähler, sondern auch ein ambitionierter Verleger ist, nicht lesen kann.


Ich sehe einen Prozess der Integration in einer dis-integrierten Zeit und das beschäftigt mich. Dieses Thema wird mich nicht loslassen, es drängt sich mir auf und läßt sich nicht beiseite drängen. Ich hoffe, ich finde die Zeit, mich ihm intensiver zu widmen.

Ein Beispiel für meine persönliche Herangehensweise:


[link2post id=“898″]Moskau – Lemberg: eine poetische Topographie[/link2post]

Es reizte mich, Zitate aus zwei Gedichten von Dmitri Prigow und Adam Zagajewski einander gegenüberzustellen: