Lange Pause

durch Erschöpfung, permanente Berufsreisen, Aufenthalte in heruntergekommen Maritim-Hotels und durch andere Gründe kam ich in letzter Zeit zwar zum Lesen, aber nicht sehr zum intensiven Lesen.

Einige Bücher waren zwar nett zu lesen, sind aber nicht wert, ausführlicher besprochen zu werden, z. B. Ulrich Tukurs Venedig-Erzählungen „Die Seerose im Speisesaal“…

Aber auch das neue Haus in Ostvorpommern hat Zeitvertreib geboten, sodaß nicht viel Zeit zum Lesen blieb.

Warlam Schalamow
Warlam Schalamow
Warlam Schalamow
Warlam Schalamow
Ich möchte aber auf ein Buch hinweisen, das mich seit Monaten beschäftigt und das so stark auf mich wirkt, daß ich nicht mehr als eine Erzählung daraus alle paar Tage ertragen kann: Warlam Schalamows Erzählungen aus Kolyma.

Noch nie in meinem Leben habe ich eine Sprache gehört, gelesen, die so klar und unprätentiös berichtet und die es ermöglicht, den furchtbaren Schrecken zu erfahren, der die Menschen so geknechtet hat.

Die Erschöpfung, die Qual, der schnelle Verlust der Individualität und Menschlichkeit, den jeder erleidet, der dem Lagersystem ausgeliefert ist, ist fast nicht zu ertragen. Als Leser.
Wie hat das Warlam Schalamow aushalten können? Er hat jeden Respekt, der nur möglich ist, verdient.

Warlam Schalamow: Durch den Schnee: Erzählungen aus Kolyma 1
Gebundene Ausgabe: 342 Seiten
Verlag: Matthes & Seitz Berlin; Auflage: Werkausgabe. (Februar 2008)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 388221600X
ISBN-13: 978-3882216004

Warlam Schalamow:Linkes Ufer Erzählungen aus Kolyma 2
Gebundene Ausgabe: 318 Seiten
Verlag: Matthes & Seitz Berlin; Auflage: 2., Aufl. (Februar 2009)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3882216018
ISBN-13: 978-3882216011

27.12.1938: Ossip Mandelstam stirbt

NKVD Photo
NKVD Photo

vor 70 Jahren verlöschte das Leben des großen Dichters Ossip Mandelstam im Fernen Osten Rußlands in einem Straflager.

Ein Dichter, der sein Leben lang gequält wurde, von der Macht, der Armut, der Dummheit. Und der uns doch mit seiner Dichtung ein großes Geschenk gemacht hat.

Olga Martynova würdigt ihn in der FR in einem bemerkenswerten Text: Eine Streichholzflamme im Wind.

Und Google AdSense liefert die passenden Anzeigen unter den Text: Transsib Sonderzug und Russland Visum beantragen

Da bleibt der Zorn im Hals stecken.

Warum Literatur wichtig ist

warum literarische Fiktion die Realität übertreffen und neutralisieren muß… schreibt Nancy Huston in der FR.

Und diesen Ausschnitt möchte ich zitieren. Er ist sehr wichtig:

Die gewollten Fiktionen (Geschichten) eines Landes liefern einen besseren Zugang zu seiner Realität als seine ungewollten (seine Geschichte). Das Lesen von Romanen – und die dadurch erlernte Fähigkeit, sich mit den Charakteren einer anderen Zeit, einer anderen Gesellschaftsschicht oder einer anderen Kultur zu identifizieren, verschafft uns Distanz zu unserer eigenen übernommenen Identität.

Da Terrorismus nicht mehr und nicht weniger ist als das Ergebnis schlimmer Fiktionen, sollten unsere Regierungen, statt Waffen zu produzieren, in den Ländern, in denen er sich eingenistet hat, die Übersetzung, Veröffentlichung und den Vertrieb der Meisterwerke der Weltliteratur begünstigen, unterstützen und fördern.

Nichts könnte nützlicher oder wichtiger sein. Je mehr die Menschen sich für realistisch halten, je mehr sie dazu neigen, Romane als überflüssiges, dummes Zeug, als Luxus oder Zeitverschwendung abzutun, desto empfänglicher sind sie für den Urtext – d.h. für Unbeherrschtheit, Gewalt und Kriminalität, für die Unterdrückung von Angehörigen oder von Frauen, von solchen, die sie für schwach halten, oder eines ganzen Volkes.

Meistererzählungen

Stefan Zweig
Stefan Zweig

Durch ununterbrochenes Hin- und Herreisen, ständig zwischen Hamburg, Frankfurt und Heidelberg unterwegs, ohne Ruhepausen, emotionalen Ausgleich und immer unter hohem Erwartungsdruck der Kunden habe ich den Faden verloren.

Keinen Roman konnte ich lesen in den letzten Wochen, Konzentration war mir beim Lesen nicht möglich. Auch war immer das falsche Buch im Koffer, und das eigene Bücherregal so weit entfernt. Also las ich nicht.

Dann aber im Heidelberger Bahnhofsbuchladen dieses Buch. Stefan Zweig ist mir natürlich kein Fremder, auch wenn ich die Schachnovelle nicht in der Schule gelesen habe. Und so nahm ich mir das Buch.

Fühlte ich mich in den letzten Monaten durch meine Arbeitsreisen vom Leben abgeschnitten, so brachte mich Zweig wieder ins Leben zurück. Sei es die sprachlose Entwurzelung des verirrten Soldaten in Episode am Genfer See oder die gewaltige emotionale Eruption in Der Amokläufer. Die Menschen in diesen Episoden sind aus den ihnen Sicherheit gebenden Verhältnissen gerissen und nun haben sie kein emotionales Vokabular mehr, sie werden getrieben und sie treiben in die Vernichtung, in die eigene oder in die Vernichtung anderer.
Dies klingt spektakulär. „Der Amokläufer“ ist auch spektakulär, die „Episode am Genfer See“ ist es nicht. Sie ist still.

Dem Autor wird sehr oft eine Eleganz zugesprochen. Das ist es nicht. Er kennt die Menschen, ihre Hilflosigkeiten, ihre Beschränkungen und er konfrontiert uns mit diesen Menschen.
Die Zeit, in der diese Menschen leben, ist nicht unsere. Aber ihre Seele ist auch unsere. Ihre Schwäche ist auch unsere. Ihre Wünsche ebenfalls.

Klingt das jetzt zu pathetisch? Ist es nicht. Ist das Eleganz? In klarer unsentimentaler Sprache werden wir den großen menschlichen Katastrophen ausgesetzt. Das ist Literatur.

Ganz große Literatur und ganz nahe bei uns.

Stefan Zweig: Meistererzählungen
Gebundene Ausgabe: 490 Seiten
Verlag: Fischer (S.), Frankfurt; Auflage: 1 (August 2006)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3103970226
ISBN-13: 978-3103970227

Der Jakubijan-Bau

Alaa al-Aswani
Alaa al-Aswani
von Alaa al-Aswani war vielbeachtet, wurde hoch gelobt und gefeatured.

Ich erwartete nach den Vorschußlorbeeren nicht nur ein mutiges Buch, sondern auch eine erzählerische Dichte, wie ich sie bei Lawrence Durrels Alexandria-Quartett so schätze.

Dieses Buch zeigt vielfältige Facetten des ägyptischen Lebens, es liest sich gut, zeigt charakterliche Entwicklungen auf, und ich nahm das alles wahr, las das unaufgeregte Buch und beendete es.

Alles war mir irgendwie vertraut, nicht fremd, aber mir fehlte eine Anteilnahme. Diese jedoch fand ich nicht. Die Protagonisten waren mir doch allzusehr geschnitzt, zuwenig gelebt.

Alaa al-Aswani: Der Jakubijan-Bau. Roman aus Ägypten

Gebundene Ausgabe: 384 Seiten
Verlag: Lenos; Auflage: 1 (1. Februar 2007)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3857873817
ISBN-13: 978-3857873812

Lerche

Derek Kosztolányi
Derek Kosztolányi
Lerche von Dezsö Kosztolányi ist ein ganz stilles Buch.
So still, daß ich es fast beim Lesen selbst vergaß.
Ganz ruhig werden einige Tage in einem kleinen ungarischen Provinzstädtchen geschildert: Die Tochter ist für eine Woche verreist und die Eltern gehen ins Restaurant, ins Theater, der Vater trifft alte Freunde wieder und dann kommt die Tochter zurück.
Das ist wenig.
Das ist viel. Denn in diesen Tagen zerbricht eine ganze Welt.
Und ich als Leserin merke plötzlich, wie sich lesend meine Wahrnehmung ändert: die Beschreibung des Alltags in der kleinen Stadt hat gar nichts Anheimelndes, der Ort wird äußerst abschätzig geschildert, das alte Ehepaar befreit sich aus der lähmenden Gegenwart der Tochter, die altjüngferliche Tochter ist nicht das Opfer strenger oder engherziger Eltern, nein die Eltern haben im Zusammenleben mit ihrer Tochter ihre Spontaneität, ihre Freiheit, ihren Freisinn verloren, die Tochter hat die Fäden in der Hand.
Aber die Tochter ist auch nicht frei. Sie ist ebenfalls eingebunden in das alltägliche Arrangement der Verachtung aller Freuden des Lebens, auch sie kann sich nicht öffnen.
Ehe die Tochter heimkehrt, in einer Nacht, schlägt der Vater über die Strenge, spielt Karten, trinkt und im Rausch und im KaterJammer erkennt er plötzlich das Elend, in dem sie leben. Er spricht es aus, benennt es.
Aber dann kommt die Tochter zurück und das Leben geht weiter.

Dezsö Kosztolányi ist auch der Autor von Ein Held seiner Zeit. Die Bekenntnisse des Kornel Esti, mir ebenfalls empfohlen von Frau Herbst in der Buchhandlung Christiansen.
Aber dieses Buch hat mich bei weitem nicht so getroffen wie Lerche.

Dezsö Kosztolányi: Lerche
Suhrkamp; Auflage: 2., Aufl. (Februar 2008)
ISBN-10: 3518224239
ISBN-13: 978-3518224236
14,80 €