Hört nicht denen zu, die gelesen haben, sondern lest lieber selbst!

Ich habe wieder mal festgestellt, daß in den Kulturjournalen die „Experten“ zwar die Autoren, über die sie reden, gelesen haben, aber nicht wirklich gelesen, nämlich nichts empfunden, empfangen, verstanden, aufgenommen haben.

Was ich meine? Sie plappern eine Hohlphrase nach der anderen vor sich her, und niemanden merkt man an, daß das, worüber sie sprechen, sie wirklich berührt…

Und Regina Guhl sagt: „Wenn man den ein oder anderen Samowar und Tee und russischen Wald einfach nur gedanklich streicht, kann man diese 100 Jahre einfach überlesen und steht sozusagen vor Leuten von heute.“

Anton Cechov
Anton Cechov

tja, und ich sah ihr die Freude über diese gelungene Formulierung an, und war sauer, denn gerade mit dieser Reihung von Vorurteilen bewies sie doch, daß sie diese Elemente eben nicht beiseiteläßt…

und was passiert dann, wenn sie diese Accessoires beiseiteläßt? Wenn sie vor den Leuten von heute steht? Sie bläst sich auf, ist kokett, aber sie ist nicht berührt.

Sie hat nichts von Tschechov verstanden, nichts gelernt, erhalten… weil sie nicht empfänglich ist

und das ist leider mit allen so, die sich in diesen Tagen in den Medien äußern, und deshalb wird auch nicht Peter Urban interviewt, der wirklich etwas sagen kann dazu, sondern eben diese Schwätzer

musste mal gesagt werden.

Leute, hört nicht denen zu, die gelesen haben, sondern lest lieber selbst!

Nah am Leben

Anton Chechov
Anton Chechov

Vor rund 30 Jahren erzählte mir eine türkische Freundin, wie sie ihre Familie austrickste, als diese sie mit einem ihr unbekannten und nicht genehmen jungen Mann verheiraten wollte.

Sie kleidete sich in Dienstbotenkleidung und öffnete dem Besuch beim Antrittsbesuch die Tür. Als sie dann später zur Familie dazukam, war der geplante Verlauf des Tages und des späteren Lebens unmöglich.

Nun lese ich genau diese Geschichte bei Chechov in den Humoresken und Satiren, frühen Stücken und frage mich

  • ob Chechov so nah am Leben war
  • ob das Leben immer noch so stattfindet
  • oder ob meine Freundin in Istanbul in ihrer Schulzeit am österreichischen Gymnasium Chechov gelesen hat und diese Geschichte dann nacherfunden oder nachempfunden hat?

Frecher Kritiker

Anton Chechov
Anton Chechov

Dass die hoch gebildeten Slawisten vertraute Gestalten unserer Kulturwelt wie Tschaikowsky als Ćajkovskij oder Tschechow als Ćechov entfremden und, wie ich leidvoll erfahre, junge Menschen vom Gang in die Buchhandlung abhalten (Pisa überall), möchte ich nicht verschweigen. Schlimmer: Die Deutsche Grammophon hält es nicht für nötig, den großen Übersetzer und Entdecker für Deutschland, Peter Urban, überhaupt zu erwähnen. Dabei verdanken wir ihm die größte nichtrussische Tschechow-Ausgabe. Keine Auskunft auf der Verpackung. Keine auf einer CD. Gerade mal eine Halbzeile im Booklet. Dort wird der Sprecher, Frank Arnold, mit 27 Vollzeilen vorgestellt, Tschechow mit 17, Urban mit sieben Halbzeilen. Die Mitübersetzerin Beate Rausch ist der deutschen Grammophon keinen Buchstaben wert. So ist auch diese schöne Hörbuch-Edition ein weiteres Zeugnis für die Kulturverachtung unseres geldgierigen Landes.

Rolf Michaelis in der Frühjahrsliteraturbeilage der ZEIT, März 2004

Anton Cechov: Ein unnötiger Sieg, 7 Audio-CDs
Audio CD
Verlag: Universal Music; Auflage: 1 (2003)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3829113382
ISBN-13: 978-3829113380