das Jahr ist vorbei und die Bücher stapeln sich…

welche Bücher haben mich dieses Jahr 2005 beglückt, welche sich als Leseerlebnis herausgestellt, mich gelangweilt, genervt oder geärgert?

Na, alle möchte ich nicht aufzählen. Wenn ich mir im Wohnzimmer ansehe, wie sich die Bücher inzwischen auf den Regalen stapeln, weil sie nicht mehr in die Regale passen, dann muss ich eigentlich eine Lesepause einlegen, die Regale erweitern, so denn überhaupt noch möglich, oder umziehen ..

Felix Philipp Ingold mit seiner Wortnahme gehört auf jeden Fall an die Listenspitze.
Ghérasim Luca mit den lapsus linguae, auch hier vorgestellt

ebenso wie Erika Burkart mit dern Ortlosen Nähe

Andrzej Stasiuk
Andrzej Stasiuk

Herr Andruchowytsch mit dem 12. Kreis hat mich gelangweilt, das Buch habe ich nicht ausgelesen, habe ich hier auch schon geschrieben…

fasziniert war ich wieder einmal von Andrzej Stasiuk,
Unterwegs nach Babadag , welches mich einstimmte auf die Ungarischen Lesezeiten, die mir meine Buchhändlerin, Frau Herbst in der Buchhandlung Christiansen so anriet.


Attila Bartis

Ganz grossartig ist Die Ruhe von Attila Bartis, dichte Athmosphäre, beklemmend, aufrüttelnd, auch obszön, das Erzählte geht mir noch Tage nach.


Juri Andruchowytsch macht Mut

Und was bleibt dem ukrainischen Schriftsteller in einer Zeit, da der Durchschnittsukrainer davon träumt, dieses Land für immer zu verlassen, ein Land, „um das es nicht schade ist“? Soll auch er es verlassen? Die Sprache wechseln? Aufhören zu schreiben?

Anders gesagt, ist Dichtung nach Tschernobyl möglich? Zu Zeiten von Tschernobyl, am Ende der Zeiten?

Da ist er, der Schriftsteller. Seine Leserschar schrumpft, sie besteht nur noch aus Leuten, die genauso erfolglos sind wie er. Seine Sprache zieht einen engen Kreis um ihn, sie ist nicht mehr Mittel der Verständigung, sondern Festung oder genauer: Schneckenhaus. Seine Zukunft – die letzte Zukunft des Graphomanen – ist durch nichts gerechtfertigt (er hat nur eine dumme und zynische Generation um sich, die Besten hauen ab, migrieren, emigrieren, mimikrieren). Niemand hat ja das Recht, den Leuten zu verbieten, sich einen besseren Ort zu suchen, auch der Schriftsteller nicht.

Was bleibt ihm dann noch?

Ich finde, ihm bleibt gar nicht wenig: der Wunsch möglichst gut zu schreiben. In einer verlumpten Gesellschaft, wo nicht Ideen, sondern Instinkte herrschen, bleibt die Rolle des Schriftstellers dieselbe. Sie ist immer dieselbe. Der einzige Unterschied: er muß sich darüber im klaren sein, daß er nicht gehört wird. Das entbindet ihn jedoch nicht von der Verantwortung, gut zu schreiben. Das ist nämlich eine Verantwortung vor sich selbst, aber nicht nur.

Denn ihm bleibt die Hoffnung. Eine Hoffnung, die auch nach Tschernobyl möglich ist.

Deshalb höre ich nicht auf zu hoffen, daß wir alle den nächsten April erleben werden. Der Frühling wird endgültig die Oberhand gewinnen, das Wetter triumphieren, die Bäume werden zu blühen anfangen, das Gras wird grünen, so schön es nur kann, mein Sohn wird vierzehn Jahre alt sein. Schon ist mein neuer Roman in nächster Nähe – zu Hause häufe ich frisches Papier an, Geduld, Zeit, Ironie, Liebe, verwandle mich in einen Hörenden, den Anstoß kann irgend etwas geben oder auch alles auf der Welt, ich weiß es nicht.

Mit einem neuen Jahrhundert ist es wie mit einem neuen Roman. Man muß den Mut haben damit anzufangen.

zitiert aus „Tschernobyl, die Mafia und ich“, in: Juri Andruchowytsch, Das letzte Territorium, Essays, edition suhrkamp 2446, 2003, Seite 121f.

Potjag 76, das Internet-Projekt von Juri Andrychowytsch und Anderen

Jurij Andruchowycz: Perwersja

Andruchowytsch: Perversia
Andruchowytsch: Perversia
und kaum schaut man auf die eben genannte Verlags-Seite, findet sich schon wieder die Ankündigung eines Buches, das ich nicht lesen kann und von dem ich nicht weiß, ob es einmal übersetzt wird…

aber es gibt eine dem Buch dazugehörige Webseite:
MNISZKI I KURTYZANY

Eine Vorstellung auf https://www.perwersja.com.pl/ksiazka/ksiazka.htm:

Perversion is the third novel by Yuri Andrukhovych, one of the most eminent Ukrainian writers of younger generation. The complex and complicated structure of this book differentiates it from the two previous novels, Recreations and Moscoviada. This time the author set himself a very ambitious task of creating an ambiguous, linguistically sophisticated novel with numerous plots, and he fulfilled it very well. Searching for any literary parallels, we should place Perversion somewhere between The Manuscript Found in Saragossa by Jan Potocki on one hand, and Spanish-American magical realism on the other. Perhaps it is not by chance that the action of the novel is located mostly in Venice, like in Carpentier’s Baroque Concerto. The Baroque, its imagination and literature seem to influence strongly Yuri Andrukhovych’s work, especially in Perversion. Of course, baroque motifs are subject to contemporary, ironic stylization, but they remain the most distinctive stylistic trope. It is indissolubly connected with the novel’s linguistic richness, serving the purpose of presenting unreal, imaginary world, which, however, is not deprived of cultural and political references to the very concrete and contemporary reality.

Perversion is a very odd book, as it appeared in contemporary literature out of nowhere. Of course, Andrukhovych’s talent had showed itself before, but in Perversion it has been accomplished in an astonishing way. We do not know exactly if we read a grotesque, a parody of literature in general, a masqueraded philosophic treatise or a contemporary version of picaresque. But, apart from all these, we find there some very actual, even political motifs, concerning the separation between East and West, between “the third world” and the first one – European or western. It is not for nothing that the hero is an Ukrainian travelling to the West – geographical, but also metaphorical, because he is going towards his own death. But probably the most important clue to this novel, its basic meaning is the fact that the protagonist is a poet. That explains everything. Perversion is a book about the language, about its possibilities and its madness. The magnificent baroque language and dazzling talkativeness reduces the story to a mere pretext, makes all sense insignificant, the very sense of the existence included. Perversion is the victory of literature which transforms death and world simply in words.

Jurij Andruchowycz

Perwersja

aus dem Ukrainischen ins Polnische übersetzt von Ola Hnatiuk und Renata Rusnak

Czarne Verlag, 2003

ISBN 83-87391-77-8

Das letzte Territorium. Essays.

AndruchowytschImmer wieder habe ich im Autorenverzeichnis der Ausgaben der Zeitschrift Ji oder im Verlagsverzeichnis des Czarne-Verlags Aufsätze des Stanislauer Autoren Yuri Andruchowytsch gesehen, die Titel mühsam entziffert und bin dann beim Lesen gescheitert.

Meine Sprachkenntnisse sind geringer als mein Lesehunger.

Um so froher bin ich, daß nun wenigstens einige der Aufsätze Andruchowythsch’s bei Suhrkamp erschienen sind: Das letzte Territorium. Essays.

Und demnächst wird auch die Webseite Zug 76, ein zentraleuropäisches Journal etwas leichter zu erreichen sind, im Moment ist der Server noch sehr langsam.

Aber Lesen kann man ja immer!

Die Ukraine, der zweitgrößte europäische Staat, ist auf unserer literarischen Landkarte nicht einmal in Umrissen vorhanden. Juri Andruchowytsch nimmt die begrenzten Kenntnisse seines Publikums in Westeuropa und in den USA ernst und bringt ihm in einer Reihe brillanter Essays diese unbekannte Region nahe. Jeder, der einmal die westliche Staatsgrenze der Ukraine überquert hat, erfährt, daß hier auch zehn Jahre nach der Unabhängigkeit noch immer eine Trennlinie verläuft: »zwischen Europa und etwas Anderem«. Erfrischend im Ton, farbig im Detail und voller Ironie beschreibt er die postsowjetische Realität seines Landes: Lernberg und Kiew, Spuren des untergegangenen Galiziens und die Katastrophe von Tschernobyl, aber auch die sonderbare Existenz von Künstlern, Schriftstellern und Intellektuellen in einem Land, »aus dem man weggeht«.

Juri Andruchowytsch: Das letzte Territorium
Taschenbuch: 192 Seiten
Verlag: Suhrkamp; Auflage: Neuauflage. (27. November 2008)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3518124463
ISBN-13: 978-3518124468
Originaltitel: Desorijentazija na miszewosti