Felix Philipp Ingold
PARVA POETICA |
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Erstes Lied
... Abend. Beim Meer saß eine
Maid, wie die Mutter beim Kind.
Sie hat ihr Lied gesungen, alleine
lauscht sie nun dem flauen Wind,
des Meeres Atem fächelt;
Friede, Zuversicht – sie lächelt,
und wie leuchtend ist ihr Blick:
mehr als ein Lächeln – festlich
erhellt sich ihr Gesicht.
Das Kind wird an Fernstes rühren,
an den Himmel – wie das Meer.
Wird es Stolz oder Gram verspüren,
wiegt Flüstern, wiegt Stille mehr?
Du kennst nur die weiten Gestade,
sitzt nur da und wartest ab ...
Singst auch du ein Lied, doch schade –
es zu beseelen fehlt die Gabe,
ihm bleibt kein Leben und kein Schlaf.
(Schmargendorf, 29. November 1900)
Lied
Ich gehe und gehe, und noch immer
ist Heimat ringsum, ist Ferne – winderfüllt,
ich gehe und gehe und weiß nimmer,
dass ich auch andere Länder einst für Heimat hielt.
Und wie weit sind jene großen Tage
schon entrückt, die südlichen Gestade,
die süßen Untergänge einst im Mai;
dort ist alles Raum und Helle – aber jäh
verdunkelt sich der Gott ... das schmerzensreiche
Volk trat zu ihm hin, nahm ihn zu sich – als seinesgleichen.
(1. Dezember 1900)
Bin so allein
Bin so allein. Und keiner, der das Schweigen –
die Stimme meiner langen Tage – kennt.
Kein Wind, der meine beiden Augen
wie einen weiten Himmel offen hält.
Draussen steht ein grosser fremder Tag,
ein Ungeheuer, das am Stadtrand wacht.
Bin ich es selbst? Worauf ich warten mag?
Wohin hat sich die Seele aufgemacht?
(Entwurf, April 1901)
So hat sich Rilke sein „eigenes Russland, ein erdachtes Märchenland“ geschaffen, das seinerseits – vielfach und großartig vergegenwärtigt in seinem Werk – als eine künstlerische Schöpfung zu betrachten ist, als eine Art „Mythenpoesie“, wie man sie in Bezug auf Deutschland etwa von Marina Cvetaeva oder in Bezug auf Armenien von Osip Mandel’štam kennt. In einem späten Brief aus dem Walliser Schlösschen Muzot, wo er von einer jungen Russin hingebungsvoll betreut wurde, schrieb Rilke – teilweise in russischer Sprache! – kurz vor seinem Tod noch einmal an Leonid Pasternak, um darzutun, dass Russland, „diese unvergessliche heimliche Skaska (= Märchen)“, ihm zeitlebens „nah, lieb und heilig geblieben ist“, für immer „eingelassen in die Grundmauern“ seines Lebens.
Val-Mont. - Gleichsam blauer Zahn im Margergras. Ein Enzian. Einzig er. Vonwegen. - Kleinchen aber grün und deutlich du. Machst nein. Wogegen ich. Russisch. - „Mors” ist männlich. Zu tränken Durst. Turg... - Rauhreif auf den Aufzeichnungen eines Jägers. Das Buch lag aufgeschlagen am Fuss der Buche. Über Nacht. Eben. - Statt Leben machen. Sind wir die Jetzten. Biss in die Luft.
Zitat. - Die Zikade die sich um bei mir zu überwintern in einer Fuge des Parketts eingerichtet hat wird nicht mit Stampfen schon gar nicht mit Schreien zum Schweigen zu bringen sein. Nur jetzt mit dem Messer.
Stolperstein. – Das Russische kennt keinen Artikel, weder den bestimmten noch den unbestimmten. Nur der Kontext, in dem ein Wort vorkommt, oder die Intonation, mit der es gesprochen wird, ermöglicht die Unterscheidung zwischen Unbestimmtheit und Bestimmtheit.
Demgegenüber hat das Deutsche drei Möglichkeiten, diese Kategorien zur Geltung zu bringen, nämlich – zum Beispiel – „Haus“ (ohne Artikel, also wie im Russischen üblich), „das Haus“ (bestimmt), „ein Haus“ (unbestimmt). Die sprachliche Differenzierung des Gemeinten ist hier leicht zu bewerkstelligen, der Sprecher muss bloß wissen, was er sagen, was er zu verstehen geben will; das Deutsche hält dafür die Register bereit.
Die Wahl des jeweiligen Registers ist so unproblematisch nicht. Das zeigt sich des Öfteren bei Übersetzungen aus dem Russischen ins Deutsche. Wo die russische Sprache lediglich eine neutrale Ausdrucksweise bereit hält, stehen im Deutschen jeweils die drei genannten Varianten zur Verfügung, die bedeutungsmäßig und auch stilistisch erheblich voneinander abweichen, sich sogar widersprechen können.
Das lässt sich, wiederum beispielshalber, belegen durch zwei lapidare Werktitel von Osip Mandel’štam, Kamen’ („Stein“) und Putešestvie v Armeniju („Reise nach Armenien“). Der Übersetzer R. D., als Herausgeber einer mehrbändigen Mandel’štam-Edition viel gelobt und kaum geprüft, verwendet im Deutschen beide Male den bestimmten Artikel – „Der Stein“, „Die Reise nach Armenien“). Beides ist gleichermaßen verfehlt. „Der“ Stein kann in der Tat nur einen bestimmten (diesen, jenen) Stein bedeuten, ist aber bei Mandel’štam gerade nicht in solcher Vereinzelung und Spezifik zu verstehen, sondern allgemein als Benennung für „Stein“ als feste, schwere, stützende, auch formbare Materie – Stein steht hier für die statische, künstlich beziehungsweise künstlerisch geschaffene Gestalt der Kathedrale, der Pyramide, der Stadt (vorab Petersburgs), auf metaphorischer Ebene aber auch für den aus Wörtern gefügten Satz, für das aus Versen und Strophen gefügte Gedicht.
Vertretbar ist im Deutschen einzig die neutrale Titelfassung ohne Artikel: „Stein“.
Das gilt ebenso für „Reise nach Armenien“. „Die Reise ...“ würde den Einzugsbereich von Mandel’štams später Prosastudie einengen auf jene datierbare und rekonstruierbare Reise, die der Autor 1930 unternommen hat, die jedoch nur den Anlass, nicht den Inhalt des Texts ausmacht. „Die Reise ...“ – in der Bedeutung von diese (eine) Reise – wäre allenfalls korrekt als Titel für einen diskursiven Reisebericht, eine Reportage, ein Erinnerungsstück. Bei Mandel’štam geht es indes keineswegs um die zeitgenössische armenische Sowjetrepublik, Armenien ist vielmehr, ganz allgemein, Kulisse und Stellvertretung für eine andere (als die russische) Welt, Armenien, so begriffen, lässt sich gerade nicht bereisen, Armenien wird hier für einen Bedrohten, Gejagten, Verbannten zum Wunderland, zu einem „mediterranen“ Kulturraum, zu einem grandiosen biblischen Idyll.
„Die Reise ...“ kann in dieses Traumland nicht führen, ihr Ziel hätte damals einzig Sowjetarmenien sein können, die völlig gleichgeschaltete, kulturell und religiös verödete Republik im Kaukasus. Der bestimmte Artikel ist in diesem Fall gewiss die schlechteste Wahl. „Eine Reise ...“ wäre als Titel allenfalls tolerierbar, der Intention des Autors vermag aber nur die artikellose Fassung zu entsprechen: „Reise nach Armenien“. Es ist zu bedauern, dass die beiden zentralen Werke Osip Mandel’štams – das eine in Versen, das andere in Prosa – hierzulande nun wohl für lange Zeit unter falschen Titeln in Umlauf bleiben werden. Von den Texten selbst nicht zu reden.
Uri. - Fürst und Idiot
im Stau. Zurück nach Russland. Nach Hause. Zurück. Eine
Urszene auch.
Tolstoj. - „Sie wissen ja
dass ich Shakespeare nicht ausstehen kann. Aber
meine Stücke sind noch mieser.“
Hale-Bopp. - Erstmals im Leben
den Kopf gehoben. Dort der Komet. Und
nicht kein Wunsch. So ungeheuer oben nicht.
Kozovoj. - „Wer ist der Wahrheit
näher? Dieser Frosch oder jener
Telegraphenmast?“
Osterweiterung. - Reibt Ich sich die Augen. Au! gen Ostern
geht's auf. Duftet
wie nichts.
Diktat. - Wenn Spaemann in seiner Apologie des christlichen Monotheismus den Anfang von allem nicht in einem Event, sondern in jemandem - Gott - beschlossen sieht, müsste der Anfang von allem ein Autor gewesen sein und nicht jenes Wort, das nach der Schrift „im Anfang“ war. Das klingt ganz plausibel, aber doch auch recht uninteressant. Dass der Autor vor dem Wort kommt, dass Gott schon vor der Schöpfung war, scheint logisch zu sein, weil es chronologisch nachvollziehbar ist und im Übrigen dem allgemeinen Verständnis von Kreativität entspricht. Demnach wäre der Autor - ob Gott oder Dichter – der, welcher etwas aus nichts schafft, der, dem das Werk – oder die Welt – zuzuschreiben, vielleicht anzulasten ist.
Logisch wäre aber auch die Überlegung, dass aus nichts nicht etwas geschaffen werden kann; dass schon immer etwas da sein muss, damit Anderes, Neues entsteht. Diese Überlegung wäre auch durch die ursprüngliche Wortbedeutung von Autor, lateinisch auctor, gedeckt, der nicht als Schöpfer, sondern als Mehrer (von augere) ausgewiesen wird. Kreativität, so verstanden, schafft nicht neu, sie schafft Mehrwert, sie entdeckt, sie erfindet Vorhandenes, ist also eher eine Suchbewegung denn ein Schöpfungsakt.
Im Kunst-, im Literaturbetrieb hat bis heute jener Autor Vorrang, der sich als Urheber und Rechthaber zu erkennen gibt; der für sein Werk Erst- und Einmaligkeit beansprucht; der einzig aus seiner Erfahrung, seinem Können, seinem Stoff zu schöpfen scheint. Wohingegen der (nach dem Vorbild des mittelalterlichen Skribenten) sich selbst entmächtigende Autor, der lediglich nach- und weiterschreibt, vom breiteren Publikum übersehen oder gar missachtet wird.
Mit Anna Achmatovas gewaltigem Ruhm kontrastiert ihre dürftige Poetik, die sich wie eine einzige Bescheidenheitsformel ausnimmt. Es komme darauf an, Vorgegebenes nachzuschreiben, hinzuhören auf das permanente Murmeln – das vage Diktat – der Texte. „Wenn keiner diktiert“, sagte sie einst im Gespräch, „ist es ganz einfach unmöglich zu schreiben.“ Doch die Bescheidenheit hat sie nicht davor bewahrt, als Dichterfürstin verehrt zu werden; erstaunlicherweise hat sie den Kult um ihre Person klaglos zugelassen – vermutlich wusste sie, dass er nicht abzuweisen war, wusste, dass das Publikum den Autor als Autorität sehen und verehren will.
Es ist schon bemerkenswert, wenn jemand wie die Achmatova, die von Taxifahrern, Grundschullehrerinnen und Jungdichtern gleichermassen als „unsere Königin“ belobigt wurde, unentwegt betont, sie habe nichts anderes zu sagen als das, was geschrieben stehe und zu lesen sei.
In solchem Verständnis haben sich, weithin unbemerkt, auch zahlreiche andere Autoren der europäischen Moderne geäußert. Edmond Jabès resümiert all jene Stimmen – von Blok und Valéry und Benn bis in die Gegenwart – in dem schlichten Satz, wonach dichterisches Schreiben nichts anderes sei als die intensivste Art zu lesen.
Jelinek. - „Es ist alles eins. Macht nichts. Die Autorin ist weg, sie ist nicht der Weg.“
Totholz (aus dem Jägerlatein). - Wechselt der Wald das Wild bleibt ungeteilt der Duft der Fährten. Hallt im lebenden Gebälk – wau! wau! – die tote Sprache nach und – ptschchu! – sucht eine ungestillte Wunde wahres Blei. Latein ist jene Ferne die Gebell und Schrot vereint. Während unhörbar in aller Mund die Erde klingt. Der schwalbenschwarze Überflug führt lamentierend in die Sonne die jetzt schräg im Acker steckt. Wie sie mit Schollen und Halmen die Schwerkraft widerlegt. So sinkt blöd nach oben Blütenstaub. Derweil in Strünken Mulm fein weiterbröckelt und der Schlaf des Wilds ein Lager sucht. Statt an der Beute zu scheitern bloss die Welt verlieren und aber niemanden sonst. • Wechselt der Wald das Wild hallt im lebenden Gebälk die Sprache und sucht Wahres. Gebell und Schrot vereint während unhörbar in aller Mund die Erde klingt. Der schwalbenschwarze Überflug führt in die Sonne die schräg im Acker steckt. Schwerkraft widerlegt. So sinkt blöd nach oben Staub. Derweil in Strünken der Schlaf des Wilds ein Lager sucht. Statt an der Beute zu scheitern bloss die Welt verlieren und niemanden sonst. • Das Wild hallt im lebenden Gebälk. Sucht Gebell und Schrot. Vereint in aller Mund die Erde. Der schwalbenschwarze Überflug führt in die Sonne. Schräg im Acker steckt Schwerkraft. So sinkt blöd nach oben der Schlaf. Statt an der Beute zu scheitern bloss die Welt verlieren und.
Nescio. - Wenn grosse Dichtwerke bis ans Ende der Dichtkunst immer „etwas bedeuten“, dann deshalb, weil sie immer wieder etwas anderes bedeuten und weil dieses immer wieder Andere das ist, was der Leser an Sinn, will sagen an „Eigensinn“ hinzufügt oder dem Text entgegenhält. Schreibend finde ich nur Wörter vor; deren Fügung ist’s, was den Text ausmacht, das Werk. Jedweder Teil des Gedichts, jedes Element hat keine Bedeutung, und zugleich hat es alle Bedeutung, nämlich den Sinn, den es im Akt des Lesens (Gelesenwerdens) stets von neuem gewinnt. Mehr als die Bedeutung, und das gilt wohl immer, sagt die Stimme. Völlig blöd und stinknormal ist der, der zu verstehen glaubt, ohne das Verstandene im Akt des Verstehens hervorgebracht zu haben. Warum hat man die Rede der Irren einstmals für orakelhaft gehalten? Gegen Bedeutung liesse sich sagen, dass Sinn auch dort entstehen kann, wo einer nicht weiss, was er sagt, und selbst dort, wo er nichts zu sagen weiß.
Joseph Brodsky (Brief an einen Archäologen). - Bürger, Gegner,
Muttersohn und Trottel,
Schnorrer, letzter Dreck, Asyljud, Schwein, verrucht;
der Kopf, so oft mit Wasser abgebrüht, verrottet,
das kleine Hirn ist längst schon ausgekocht.
Jawoll, hier haben wir geruht, in all den Trümmern,
die du nun absuchst - Ziegelsteine, Beton, Holz.
Unsre Drähte haben sich verheddert, sind verkümmert.
Wir liebten die Frauen, die uns nahmen, nicht - was soll’s.
Hart klingt, wenn sie auf totes Eisen trifft, die Hacke;
doch härter traf das Wort, das unsre Waffe war im Streit.
Fremder, du! Pass auf, wir sind nur Aas und Kacke:
doch was für dich bloss Fäulnis ist, macht unsre Zellen frei.
Lass unsre Namen ruhn. Du sollst die Konsonanten
und Vokale nicht erneuern: der Lerche sind sie fremd,
der tolle Bluthund ist ihr einziger Verwandter -
er frisst den eignen Kot, das Spurenelement; und bellt.
(aus dem Englischen von Felix Philipp Ingold)
Ich erinnere mich... wie ich als frischer Leser, vor nun also dreißig, fünfunddreißig Jahren, jeweils mit Ungeduld und in freudiger Erwartung die neuen Bücher zeitgenössischer Autoren erwartete - Eich, Aichinger, Bachmann, Krolow, Frisch, aber auch Böll, Nonnenmann, Faecke, selbst von Jünger, von Schaper bekam man damals noch Neues zu lesen.
Heute brauche ich kaum noch zeitgenössische Lektüren, kaum ein aktueller Text kann mich soweit interessieren, dass ich mehr als ein Durchblättern, allenfalls eine punktuelle Lektüre investieren würde. Meine Entdeckungen, meine Überraschungen ergeben sich nur noch im Rückgriff auf längst Gelesenes oder bisher Übersehenes. Mich selbst erstaunt's, mit welch jungendlicher Begeisterung ich jetzt Parmenides, Epiktet, Boethius lesen kann, auch Seneca oder Montaigne, zu schweigen von Valéry, Kafka, Solmi, Borges, Beckett, Manganelli, Cioran, deren wiederholte Lektüre, entgegen sonstiger Erfahrung, an Intensität immer noch einmal gewinnt.
Mir scheint der „Fortschritt“ in Literatur und Philosophie heute umgekehrt zur Chronologie zu verlaufen. Frühere, frühste Texte zu lesen, hat für mich größere Aktualität als das meiste, was als aktuelles Angebot derzeit auf den Markt kommt. Insofern bin ich, nicht ungern, ein Reaktionär. Das mag inzwischen eine Alterserscheinung sein. Die Lebenszeit nimmt ab, man scheut – gerade auch beim Lesen – Sackgassen und Risiken. Statt Neuerscheinungen aller Art, die man aus professionellen Gründen gelesen haben müsste, gilt das Interesse nun eher dem, was man zum Nachdenken, vielleicht gar zum Leben, statt bloß zum Weiterschreiben braucht. Nur dort ist intensive Lektüre noch möglich, wo man nicht partiell auf etwas Vorbestimmtes hin zu lesen hat, sondern sich ganz dem aussetzt und öffnet, was da steht. Ganzheitlich lesen heisst gleichgültig lesen, so nämlich, dass der Text in all seinen formalen und inhaltlichen Komponenten als gleichermaßen gültig wahrgenommen wird.
Mehrfach habe ich – und wer hat's nicht getan? - die dreibändige Nietzsche-Ausgabe von Schlechta durchgearbeitet, jedes Mal unter einem wieder anderen thematischen Aspekt. Doch eine derart spezialisierte Lektüre ermöglicht keine adäquate Rezeption, sie bleibt weit davon entfernt, dem Text außer einem bestimmten Informationswert etwas abzugewinnen, das über die im Text angelegte Bedeutung, ja über die Intentionen des Autors hinausreicht - hinaus, und das heißt hinein in den dunkleren Raum der eigenen Nachdenklichkeit.
Autor. - Der hat ordentlich
das Feld vermint. Die Welt vermehrt. Und
aber den Verlust für sich behalten.
Und ... plötzlich ist ein unbedachtes En-
de da. Wo wo-
möglich das Gedicht beginnt.
Ausgelesen. - Unlängst las ich bei Terras, dass in Russland in den 1830er/1840er Jahren ein versierter Leser quantitativ alles lesen konnte, was damals in Buchform oder in Zeitschriften und Almanachen erschien. Ein Kritiker wie Belinskij durfte wohl für sich in Anspruch nehmen, die gesamte literarische Produktion jener Jahre gelesen zu haben, über die er dann in seinen Chroniken berichtete. Und ...
... aber heute! Niemand - nicht einmal der professionelle Rezensent - hat auch nur eine ungefähre Übersicht über das, was neu auf den Büchermarkt kommt, geschweige denn, dass er mehr als einen Bruchteil davon in Händen gehalten oder gar gelesen hätte. Das Besprechungswesen (ich verallgemeinere und lobe mir dabei die wenigen aufzählbaren Ausnahmen) orientiert sich schon längst nicht mehr an der Sache der Literatur, will heißen an eigentlich literarischen Kriterien. Schon die Auswahl dessen, was besprochen wird, ist eher trend- denn qualitätsbestimmt, hat also vorab Inhalte (Plots, Probleme, „Aussagen“) zum Gegenstand, die sich leicht rekapitulieren und oft auf den Umfang eines Waschzettels eindampfen lassen. Rezensionen solch gängiger Verlagsware sind denn auch meistens nicht viel mehr als Paraphrasen auf Werbetexte – sie machen deutlich, dass Bücher dieser Art nicht mehr gelesen, bloß noch „gesehen“ werden müssen.
Es scheint tatsächlich zu genügen, den „neuen XY“, die „neue YZ“ gesehen zu haben, es genügt, sich ein ungefähres Bild zu machen, sich eine persönliche Meinung zurecht zu legen und darüber im Feuilleton sich auszulassen, allenfalls mit dem Eingeständnis, man sei, als Rezensent, von dem Buch „angetan“, gar „angerührt“ oder auch nur „gelangweilt“, schlimmstenfalls „enttäuscht“ gewesen. Keine Rede jedoch, im Regelfall, vom Text als solchem - vom Bau der Sätze, der Konstruktion von Figuren und Metaphern und Ähnlichem mehr. Statt die textimmanenten Voraussetzungen zu klären, von denen der jeweilige Autor ausgegangen ist und an denen er zu messen wäre, wird lediglich über die momentane Wirkung berichtet, die der Kritiker an sich selbst wahrnehmen kann und deren Relevanz in Bezug auf das besprochene Werk eher unerheblich ist.
Fragt sich nur: War’s bei Belinskij anders, besser vielleicht? Sind seine Lesarten über den Tag hinaus gültig, anregend, produktiv geblieben? Was man sicherlich sagen darf – er hat die besprochenen Texte gelesen; er hat sie lesen müssen, denn Waschzettel und Werbeprospekte gab’s damals noch nicht.
Hundstag. – Vielleicht ist dieses
Meer kaspisch und alles andere
ein Monster jetzt.
Eingebung
des Augenblicks wo
Chlebnikovs Hut noch einmal
wassert und mit seiner weiss
gezackten Krempe
die Flut ritzt.
Während Gott den Strand
fegt. Ein Unentwegter am Bildrand
den Schatten
der Sonne signiert. Wühlt
im Gelb
des Himmels Sirius.
Filosofari necesse est, vivere non est. - Die anfängliche Hochkonjunktur philosophischen Denkens im postsowjetischen Russland ist verhältnismäßig rasch einer weit reichenden Depression gewichen, die durch einen neuerlich aufkommenden apokalyptischen Jammerton bestätigt, wenn nicht gar verstärkt wird. Weithin ist die Rede vom „Drama“, von der „Tragödie“, ja vom „Tod“ der russischen Philosophie.
Igor’ Smirnov, engagierter Vordenker der Postmoderne in Russland und selbst ein Denker von Format, verbindet seinen angeblichen philosophischen Bankrott mit dem, wie er meint, unmittelbar bevorstehenden Untergang der Weltkultur. „Die ganze russische Philosophie war doch – Sch...se!... Liest die Welt russische Philosophen? Nein, die Welt liest russische Philosophen nicht.“ Doch was tut’s, da auch „die Welt“ dem Untergang geweiht und also abzuschreiben ist: „Schlimm, es auszusprechen; aber ich bin der Meinung, die menschliche Kultur hat sich erschöpft. Es gibt manche Symptome, die darauf verweisen, dass die Möglichkeiten, über die der Mensch stets verfügt hat, geschwunden sind. Ich sehe, um ein Beispiel zu nennen, das Ende der Humanwissenschaften gekommen... Man könnte weitere Beispiele dafür anführen, dass in unseren Tagen Abschied genommen wird vom Begriff des Menschlichen. Das Problem ist nur noch: Werden wir uns tatsächlich selbst den Abschied geben können?“
„Keiner tut etwas, aber alle philosophieren“, ließ schon Cechov (im Bühnenstück Cajka) verachtungsvoll verlauten. Dostoevskij wiederum hat der Philosophie verschiedentlich vorgeworfen, sie ersetze das Leben durch Theorien, die sie wiederum für das Leben ausgebe, und mehr als dies – sie behaupte die Wahrheit, statt in der Wahrheit zu sein; sie schärfe, sie erweitere das Bewusstsein und trage eben dadurch zum existentiellen Ungemach des Menschen bei: „Bewusstsein ist Krankheit. Nicht dass Krankheit aus Bewusstsein entstünde... Das Bewusstsein selbst ist die Krankheit.“ Das Bewusstsein, so wird später Boris Pasternak präzisieren, sei „ein Mittel der Selbstvergiftung“ für jeden, der es „an sich erprobt“.
„Ob hier der russische Charakter oder historische Bedingungen bestimmend waren, wage ich nicht zu entscheiden“, hat dazu, vor nunmehr hundert Jahren, Pavel Florenskij angemerkt: „Doch es gibt keinen Zweifel daran, dass sich die ‚Kopf‘-Philosophie bei uns nie hat durchsetzen können. Das altväterische Diktum, wonach der Verstand, wenn er nur eben Verstand ist, zu absolut nichts taugt, findet offenbar in allem Russischen seinen Nachklang.“ Vor diesem Hintergrund wird vielleicht einsichtig, dass und weshalb in Russland auch die jüngsten philosophischen Bemühungen eher dem „Bauch“ als dem „Kopf“ zuzuordnen sind, und vielleicht ist man so auch eher bereit, die Literatur als Medium wie als Gegenstand der Philosophie gelten zu lassen.
Igor’ Smirnov, der in seinem Buch Homo homini philosophus (1999) so etwas wie eine posthumane (oder präapokalyptische) Anthropologie entworfen hat, praktiziert solche „Selbstzuwendung“ neuerdings dadurch, dass er in bekenntnishaften „Briefen“, „Gesprächen“ und „Zeugnissen“ mit rüder Diktion von eigenen Körpererfahrungen (Alkoholmissbrauch, Geschlechtlichkeit u.a.m.) berichtet, sich mit Vorliebe über Narzissmus, Schizophrenie, Homosexualität und Gentechnologie auslässt, um schließlich – angesichts eines Phänomens wie der Love Parade – die Frage zu stellen: „Vermag der Mensch ausschließlich als Körper zu existieren? Kann der Mensch ohne Ideen leben? Kann sich der Mensch in eine Maschine verwandeln, sich selbst ersetzen durch ein elektronisches Gerät oder einen Klon?“
Das ist nun gewiss keine spezifisch russische Fragestellung, aber die Art und Weise, wie hier philosophisches Räsonieren autobiographisch beglaubigt und narrativ umgesetzt wird, ist durchaus repräsentativ für eine geistreiche, eher auf Provokation denn auf Reflexion angelegte Essayistik, die sich mehr und mehr der Belletristik annähert. Beispielhaft dafür sind, mit und neben Smirnov, Autoren wie Aleksandr Pjatigorskij, Michail Gasparov (Zapisi i vypski), Aleksandr Žolkovskij, Dmitrij Galkovskij oder Fedor Girenok.
Die wahre „Philosophie“, als Liebe zur Weisheit, ist in Russland seit jeher mehrheitlich außerhalb akademischer Institutionen und unabhängig von entsprechenden Gepflogenheiten praktiziert worden, Philosophie bleibt hier, sieht man vom ideologischen Systemdenken der einstigen Sowjetphilosophie ab, weitgehend darauf beschränkt, sich über Gott und die Welt „Gedanken zu machen“ oder eben, im eigentlichen Wortverständnis, zu „philosophieren“ (filosovstvovat’) – systemfrei und begriffsschwach.
Merab Mamardašvili, der auf Grund seiner erst postum veröffentlichten Variationen und Meditationen (über Descartes, Kant, Tolstoj, Proust u.a.m.) in den vergangenen Jahren zum wohl populärsten Philosophen Russlands avancierte, hat seinen letzten öffentlichen Auftritt im Oktober 1990 mit einem gleichsam testamentarischen Selbstbekenntnis eingeleitet, das durchaus auch als allgemeine Charakterisierung dessen gelten kann, was man sich unter „typisch russischer“ Philosophie vorzustellen hat: „Philosophie ist kein Beruf, sondern ein Temperament, eine Lebensart, und ich kann deshalb keinerlei Wissenssumme vermitteln, kann lediglich etwas vollkommen Intimes wiedergeben, das für das Verstehen entsprechend riskant ist.“ Von daher erklärt sich wohl auch die Tatsache, dass heute in Russland alle Arten von Lebensdokumenten – private Aufzeichnungen, Erinnerungen, Briefe – als Dokumente einer subjektiven „Realphilosophie“ aufgefasst und oft höher eingeschätzt werden als die diskursiven Hervorbringungen professioneller Philosophen.
Mamardašvili hat dazu, verallgemeinernd, wiederum ein paar Sätze notiert, die für das Selbstverständnis der russischen Philosophie insgesamt aufschlussreich sind: „Philosophie braucht nicht unbedingt in Form von Lehren vorzuliegen. Sie kann ganz einfach Philosophie auf dem jeweiligen Bewusstseinsstand eines Schriftstellers, eines Künstlers, eines Gelehrten, jedenfalls einer Einzelperson sein. Die professionelle Philosophie expliziert ja bloß und überträgt in eine spezielle Terminologie das, was unabhängig von ihr in anderen Kulturbereichen vorhanden ist. Man lasse sich deshalb nicht irritieren, wenn Philosophie an gänzlich unerwarteter Stelle auftritt, und nicht allein auf philosophischen Lehrstühlen. Übrigens ist sie gerade auf solchen Lehrstühlen am wenigsten zu finden.“
"Konec! kak zvucno eto slovo …“ - Kann jetzt! Das ist das schönste Schlusswort überhaupt. Du kriegst es schwarz auf weiss gesagt. Wie Schweigen. Diktat direkt aus dem Organ das sich beim Reden lautlos selbst erfindet. Findet’s - ah! - Anklang bei Kindern und künstlichen Tieren. Was bitte gilt. Der Einfachheit halber seien Kuh und Kugel eins. Stellen wir uns mal - so! - den Menschen vor.
2008 Felix Philipp Ingold
Felix Philipp Ingold, Dr. phil., Prof. em. an der Universität St. Gallen im Fachbereich Kultur- und Sozialgeschichte Russlands. Neuere Buchpublikationen: "Der grosse Bruch". Russland im Epochenjahr 1913 (München 2000); "Im Namen des Autors". Arbeiten für die Literatur und Kunst (München 2004); "Bohemica". Begleitbuch zur Ausstellung in der Vadiana (St. Gallen 2005); "Wortnahme". Jüngste und frühere Gedichte (Basel 2005); "Russische Wege". Geschichte, Kultur, Weltbild (München 2007); "Tagesform". Gedichte zur Zeit (Graz/Wien 2007).