Juri Andruchowytsch macht Mut

Und was bleibt dem ukrainischen Schriftsteller in einer Zeit, da der Durchschnittsukrainer davon träumt, dieses Land für immer zu verlassen, ein Land, „um das es nicht schade ist“? Soll auch er es verlassen? Die Sprache wechseln? Aufhören zu schreiben?

Anders gesagt, ist Dichtung nach Tschernobyl möglich? Zu Zeiten von Tschernobyl, am Ende der Zeiten?

Da ist er, der Schriftsteller. Seine Leserschar schrumpft, sie besteht nur noch aus Leuten, die genauso erfolglos sind wie er. Seine Sprache zieht einen engen Kreis um ihn, sie ist nicht mehr Mittel der Verständigung, sondern Festung oder genauer: Schneckenhaus. Seine Zukunft – die letzte Zukunft des Graphomanen – ist durch nichts gerechtfertigt (er hat nur eine dumme und zynische Generation um sich, die Besten hauen ab, migrieren, emigrieren, mimikrieren). Niemand hat ja das Recht, den Leuten zu verbieten, sich einen besseren Ort zu suchen, auch der Schriftsteller nicht.

Was bleibt ihm dann noch?

Ich finde, ihm bleibt gar nicht wenig: der Wunsch möglichst gut zu schreiben. In einer verlumpten Gesellschaft, wo nicht Ideen, sondern Instinkte herrschen, bleibt die Rolle des Schriftstellers dieselbe. Sie ist immer dieselbe. Der einzige Unterschied: er muß sich darüber im klaren sein, daß er nicht gehört wird. Das entbindet ihn jedoch nicht von der Verantwortung, gut zu schreiben. Das ist nämlich eine Verantwortung vor sich selbst, aber nicht nur.

Denn ihm bleibt die Hoffnung. Eine Hoffnung, die auch nach Tschernobyl möglich ist.

Deshalb höre ich nicht auf zu hoffen, daß wir alle den nächsten April erleben werden. Der Frühling wird endgültig die Oberhand gewinnen, das Wetter triumphieren, die Bäume werden zu blühen anfangen, das Gras wird grünen, so schön es nur kann, mein Sohn wird vierzehn Jahre alt sein. Schon ist mein neuer Roman in nächster Nähe – zu Hause häufe ich frisches Papier an, Geduld, Zeit, Ironie, Liebe, verwandle mich in einen Hörenden, den Anstoß kann irgend etwas geben oder auch alles auf der Welt, ich weiß es nicht.

Mit einem neuen Jahrhundert ist es wie mit einem neuen Roman. Man muß den Mut haben damit anzufangen.

zitiert aus „Tschernobyl, die Mafia und ich“, in: Juri Andruchowytsch, Das letzte Territorium, Essays, edition suhrkamp 2446, 2003, Seite 121f.

Potjag 76, das Internet-Projekt von Juri Andrychowytsch und Anderen