Usedomer Literaturtage – 1. (und für mich) letzter Tag.

Gestern wurden die Usedomer Literaturtage 2013 eröffnet.  Sie stehen unter dem Titel  „Geschichte und Geschichten. Literarische Spurensuche in der Mitte Europas„.

Ich habe mich auf die Veranstaltungen gefreut. Die Veranstaltungen des ersten Tages waren für mich interessant: Eine Lesung mit Arno Surminski (und Tatjana Dönhoff) und eine Nachtlesung mit Tomasz Różycki.

Ich war voll des naiven Glaubens, bei diesen Veranstaltungen ginge es um Literatur, um die Inhalte, die Texte.
Das war ein grober Irrtum.

Die erste Veranstaltung war eine Produktmarketing-Veranstaltung der Frau Dönhoff und des Selbstdarstellers / Moderators Andreas Kossert. Wir durften Ausschnitte aus dem ARD-Dreiteiler „Die Flucht“ sehen, dessen Drehbuch Frau Dönhoff geschrieben hat und wir durften Herrn Kossert versuchen zu folgen, wenn er die ganze Thematik immer wieder auf einen aktuellen Fernseh-Dreiteiler („Unsere Väter, unsere Mütter“ oder so) lenken wollte. Wobei es dann hoppunddopp durch alle Generationen ging, daß einem schwindelig wurde. Herr Surminiski durfte auch ein paar Ausschnitte lesen, dafür wurde ihm gedankt und dann ging es wieder zu Dönhoff / Kossert. Eine eitle und selbstgefällige Veranstaltung, in einem eitlen edlen Sponsoren-Hotel-Ambiente. Hat aber nichts mit dem Thema „Literarische Spurensuche in der Mitte Europas“ zu tun.

Wie kann man Arno Surminskis erschütterndes, eindrucksvolles  Buch „Winter 45“ als wunderbar abtun, Herr Kossert? Es hat die schrecklichsten Ereignisse des letzten Jahrhunderts zum Thema. Dieses Buch blieb auf der Strecke, wurde zu smalltalk degradiert. Aber dafür wissen wir jetzt, daß Sie mit Frau Dönhoff am masurischen Kamin zu sitzen pflegen. Und das ist ja auch was.

Sehr ärgerlich.

Auf die zweite Veranstaltung des Abends wurde auch in den Anmoderationen der ersten Veranstaltung hingewiesen, nach dem Motto: Etwas ganz einmaliges, etwas ganz besonderes, sogar grenzübeschreitend, da müssen Sie unbedingt hin.

Wir sind da hin. Denn ich wollte unbedingt die Lesung aus dem Vers-Epos „Zwölf Stationen“ des polnischen Lyrikers Tomasz Różycki im Centrala in Świnoujście erleben. Zwölf Stationen erschien 2009 und es hat mich damals begeistert, wie man ja in dem verlinkten Artikel hier in meinem Lesebuch lesen kann. Ein galizisches Werk, mit den literarischen Vätern Bruno Schulz und Venedict Jerofejew  (meine Einschätzung). Ich erwartete und freute mich auf eine zweisprachige Lesung mitsamt Free Jazz.

Aber das war es dann auch nicht. Es war keine Nacht-Lesung. Ganz kurz las der Autor kurze Stellen, ganz kurz bekamen wir Ausschnitte aus der deutschen Übersetzung vorgetragen (ein Dank dem Herren rechts auf dem Bild dafür). Ansonsten ging die Veranstaltung unter im eitlen Geschwätz des Herrn Thomas Schulz, der nicht moderierte, sondern die Rezeptionsgeschichte des Werkes und andere interessante Themen, die man gerne anstatt der Lesung selbst hören möchte, durchkaute. Herr Różycki war schüchtern, die Übersetzerin tat ihr Bestes, der Herr Schulz drückte der Veranstaltung den Event-Stempel / den Talkshow-Stempel auf  und das war es dann.

Ich möchte wetten, daß außer mir nur ganz Wenige im Publikum das Buch kannten, es gelesen haben. Die Chance, es kennenzulernen, hatten sie an dem Abend nicht.

Lesung "Zwölf Stationen"
Lesung „Zwölf Stationen“

Selten war ich nach literarischen Veranstaltungen so frustriert wie gestern abend. Wichtigtuer, Selbstdarsteller, Events, Produkt-Marketing, da geht die Literatur unter. Und deswegen bin ich so sauer. Sollen die ihren Scheiß mit Trivial-Autoren veranstalten, dann finden sie bestimmt noch mehr Sponsoren.  So tut man dem Thema, den Büchern, den Autoren keinen Gefallen. Es ist einfach nur Mist.

Winter 45

Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken Der Band Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken von Arno Surminski war der Anlaß, weitere Bücher dieses Autors zu lesen. Da ich einige Tage im Krankenhaus verbringen mußte, las ich auch Sommer vierundvierzig: Oder Wie lange fährt man von Deutschland nach Ostpreußen? und Jokehnen: Oder Wie lange fährt man von Ostpreußen nach Deutschland? sowie Erzählungen des Autors.

In dem Roman Winter fünfundvierzig bringt Surminski zusammen, was sonst immer getrennt gesehen / erzählt wird: das Schicksal der KZ-Häftlinge, die Flucht der Bevölkerung aus Ostpreußen, das Schicksal der Menschen, die sich nicht auf die Flucht begaben, das Schicksal der Nachgeborenen. Denn dieses ist alles miteinander verwoben und aus der Trennung wächst die Verdrängung und das Leugnen.

Die klare, knappe Sprache des Autors muß ich nicht weiter beschreiben, seine Fähigkeit so zu erzählen, daß das ganze, eigentlich unsagbare Grauen wahrnehmbar wird. Es ist wichtig, aufzuzeigen, daß alle diese Geschehnisse gleichzeitig geschahen, dem gleichen System entstammen, das Schicksal der Bauersfrau und das der jungen Tänzerin aus Lodz miteinander verknüpft sind, bestimmt sind  durch  die unselige Ideologie des Nationalsozialismus.

Ich danke dem Autor dafür, daß er die KZ-Häftlinge in das Zentrum des Erzählens gerückt hat, daß er uns Leser zwingt, diese Geschehnisse wahrzunehmen.

Ich habe den Ort Palmnicken / Jantarny schon lange auf der Liste meiner Reiseziele, wollte dort seit Jahren hinreisen. Jetzt ist es mir nicht mehr möglich, nur wegen des Bernsteins dort hinzufahren. Jetzt gibt es für mich einen wichtigeren Grund: der Opfer zu gedenken. Am Strand von Palmnicken

Arno Surminski: Winter Fünfundvierzig oder Die Frauen von Palmnicken
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
Verlag: Ellert & Richter (15. August 2010)
ISBN-10: 3831904219
ISBN-13: 978-3831904211