Wann wir lesen …

Wann wir lesen, denkt ein Anderer für uns: wir wiederholen bloß seinen mentalen Proceß. Es ist damit, wie wenn beim Schreibenlernen der Schüler die vom Lehrer mit Bleistift geschriebenen Züge mit der Feder nachzieht. Demnach ist beim Lesen die Arbeit des Denkens uns zum größten Theile abgenommen. Daher die fühlbare Erleichterung, wenn wir von der Beschäftigung mit unsren eigenen Gedanken zum Lesen übergehn. Eben daher kommt es auch, daß wer sehr viel und fast den ganzen Tag liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreibe erholt, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmälig verliert, – wie Einer, der immer reitet, zuletzt das Gehn verlernt. Solches aber ist der Fall sehr vieler Gelehrten: sie haben sich dumm gelesen. Denn beständiges, in jedem freien Augenblicke sogleich wieder aufgenommenes Lesen ist noch geisteslähmender, als beständige Handarbeit; da man bei dieser doch den eigenen Gedanken nachhängen kann. Aber wie eine Springfeder durch den anhaltenden Druck eines fremden Körpers ihre Elasticität endlich einbüßt; so der Geist die seine, durch fortwährendes Aufdringen fremder Gedanken.

Dies schreibt 1851 Arthur Schopenhauer in seinem Aufsatz „Ueber Lesen und Bücher | (Kapitel XXIV von Parerga und Paralipomena II)“.

Nun hoffe ich, daß ich nicht zuviel in dem geschilderten Sinne lese. Was A.S. da über das Lesen schreibt, das attestiere ich heute dem Hörbuch: es schleicht sich ein anderer zwischen mich und das Buch. Welche Art des Lesens oder der Literaturrezeption fällt nicht unter dieses Schopenhauersche Dictum?

Welttag des Buches 2012

Welttag des BuchesHeute ist der Welttag des Buches und die Aktion Lesefreunde des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels und der Stiftung Lesen verteilte im Vorgang jeweils 30 Bücher an 33.333 Lesefreunde. Einer dieser Lesefreunde bin ich.

Nun habe ich heute das Paket mit 30 Exemplaren der "Suite Française" von Irène Némirovsky, abgeholt und werde diese Bücher nach und nach verteilen, verschenken.

Eine Liste möglicher Empfänger habe ich schon erstellt. Erfahrungen mit dem Verschenken habe ich noch keine. Mal sehen.

Heute ist es uns unverständlich, wissen viele von uns nicht aus eigener Erfahrung, wie wichtig Literatur sein kann, wenn sie verboten wird oder Autoren verfolgt werden. Wir Leser wundern uns, daß immer weniger gelesen wird und daß solche Werbe-Aktionen anscheinend notwendig sind. Bücher sind zu oft nur Konsumgut.

Daß aber Bücher zu anderen Zeiten den Menschen Hilfe gaben, ihnen ein Stück Indivídualität und Freiheit gaben, kennen nicht alle von uns.

Das untenstehende Bild habe ich letzte Woche im Museum des 101. Kilometers in Alexandrov in Russland aufgenommen. Es zeigt das Schreibheft der Anastasia Svetaeva, einer Schwester Marina Svetaevas, ebenfalls eine Lyrikerin, man nannte sie auch die letzte Autorin des Silbernen Zeitalters der russischen Poesie.

Anastasia Svetaeva

Über den Besuch in Alexandrov werde ich im nächsten Beitrag berichten.

György Konrad: Glück

György Konrad: Glück

Ein kleines Mädchen reißt aus, schließt sich den Menschen an, die zum Flußufer getrieben und dort erschossen werden. Sie steht neben ihrer Tante, die wie die anderen Juden, von den Kugeln der SS getroffen wird und nach vorne in den Fluß kippt.
Ein SS-Mann rät dem Mädchen, schnell nach Hause zu gehen, die Familie mache sich sonst Sorgen.

Dies ist nur eine der schrecklichen Situationen, die György Konrad in seinem Erinnerungsband Glück schildert. Ein Junge muß seine Heimatstadt verlassen, in der seine Familie viele Generationen lebte, er entgeht der Deportation nach Auschwitz. Ohne Eltern wächst er auf.
Später kehrt er auf Einladung in seine Heimat zurück. Mit zwiespältigen Gefühlen. Aber auch mit Freude und glücklichen Erinnerungen.

György Konrad schildert Unvorstellbares, Unaushaltbares, aber durch seine Schilderung läßt er diese Ereignisse real werden. Sie waren real. Auch wenn wir, die diese Zeit nicht mehr erlebt haben, sie uns nicht vorstellen können. Obwohl wir wissen, daß es so war.
Das Gefühl, der Verstand wehrt sich gegen solche Erzählungen und Erkenntnisse. Aber es hilft nicht. So war es.

György Konrad: Glück.
Verlag: Suhrkamp Verlag, 2003
ISBN-10: 3518414453
ISBN-13: 978-3518414453
Originaltitel: Elutazas es hazateres

Ost und West – immer noch unterschiedliche Wahrnehmung?

Eva Strittmatter starb mit 80 Jahren.
Ich weiß von ihr nur, daß sie Lyrikerin war. Daß sie in der DDR hohe Auflagenzahlen hatte, aber ich habe nichts von ihr gelesen. Auch kein Werk ihres Mannes Erwin Strittmatter.

Der Schriftsteller Lutz Rathenow beklagt, daß die Literatur der DDR-Literatur auch 20 Jahre nach der Wiedervereinigung im Westen Deutschlands anders wahrgenommen würde als im Osten.

Aus Frankfurt am Main betrachtet könne es sein, dass die Lyrikerin als unpolitisch und linientreu erschien, sagte Rathenow weiter. „Aus Frankfurt an der Oder gesehen ist sie natürlich nicht so staatstreu gewesen.“

Da hat er wohl recht.  Aber der Vorwurf, wenn es denn wohl ein Vorwurf ist, ist mir zu einseitig. Es gibt nicht nur Ost- oder West-Literatur, als die interessanteste deutsche Literatur der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts empfinde ich die Literatur der Dichter, die in beiden Deutschlands zuhause waren: Köppen, Johnson …

Auch die Literatur aus der DDR, die in der DDR nicht veröffentlicht wurde, wie Werner Bräunigs Rummelplatz, fällt durch dieses Argumentationsraster.

Wer wirft den Stein?

Am 16. November schrieb Dieter Schlesak in der FAZ den folgenschweren Artikel „Schule der Schizophrenie“, in welchem er Oskar Pastior beschuldigt, entgegen aller bisherigen Annahmen und Hoffnungen ein aktiver IM der Securitate gewesen zu sein.Er unterstellt ihm, seinen Freund Georg Hopprich mit in den Selbstmord getrieben zu haben.

Ich las den Artikel und mein Herz wurde bedrückt. Ein schlimmer Konflikt wurde da aufgeblättert. Aber diese Abrechnung hat auch einen Nebengeschmack: Dieter Schlesak erwähnt, daß er selbst IM der Securitate gewesen sei und behauptet, seine Akte sei von der Securitate gefälscht worden, Pastiors hingegen nicht.  Wer vermag solch einer reinwaschenden Argumentation zu vertrauen?

Das Ganze ist ein perfides Netz aus Lügen, Abrechnung, Verdacht und Ahnung.

Daß ein Mensch verzweifelt, der in diese Verstrickungen gerät, kann nicht wundern.

Daß ein Mensch verdrängt, daß er in diese Verstrickung geriet, verwundert auch nicht. Das ist das Wesen der Verdrängung.

Ein System, das nur aus Niedertracht besteht, wie die Securitate, hört nicht einfach auf zu bestehen. Wühlt weiter. Ist weiter niederträchtig.

Ernest Wichner weist in einer Antwort auf Schlesak darauf hin. Zu den Vorwürfen wegen Georg Hopprichs Selbstmord schreibt Wichner:

Wäre diese Geschichte wahr, das heißt, mit einem Bericht des IM „Stein Otto“ zu belegen, so wäre im Fall Oskar Pastior alles gesagt. Er wäre nicht nur ein unter der Androhung von Gefängnis zu Spitzeldiensten erpresster Dichter gewesen, sondern hätte auch investigative, ja kriminelle Energie an den Tag gelegt und als Teil des Repressionsapparates den Tod eines Freundes mitverschuldet. Um aber solches auch nur in den Bereich des Vorstellbaren zu rücken, sollte man Beweise haben und nicht mit Gerüchten hantieren, die niemand auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen kann.

Warum nur, stelle ich mir die Frage, findet diese Bosheit und Gemeinheit immer wieder Hörer, warum veröffentlicht die FAZ solche Artikel voller Vermutungen und unnachprüfbarer Anschuldigungen wie den von Schlesak??

Ein Toter kann sich nicht wehren.

gezwungen und falsch geurteilt

Da lese ich im Untertitel der Süddeutschen:

Herta Müllers Freund, der Lyriker Oskar Pastior, spitzelte für den rumänischen Geheimdienst Securitate.

Ist das richtig?
Spitzelt ein Mensch, der vom Geheimdienst verfolgt, um sein Leben fürchtend, in die Rolle eines IM gezwungen wurde?

Als Spitzel werden gewöhnlich Zuträger bezeichnet, die aus eigenem Antrieb oder auf Nachfrage, meist gegen irgendeine Form von Belohnung, einem Nachrichtendienst oder der Polizei oder einem privaten Ermittler Informationen über solche Personen, Gruppen oder Organisationen liefern, zu denen der Empfänger der Information selbst keinen Zugang hat.

schreibt die Wikipedia.

Ich meine, unser Denken ist falsch. Es gibt kein Schwarz und kein Weiß, und die Tatsache, daß wir unangefochten in Freiheit aufgewachsen sind, darf  uns nicht erlauben, ungenaue Urteile mit ungenauer Sprache zu treffen.

Solche Formulierungen wie die von C. Schmidt und L. Müller in der Süddeutschen, sind leichtfertig und tun dem Opfer, das zum Täter gezwungen werden sollte, nur Unrecht.

Hüten wir Unangefochtenen uns vor der Verurteilung der Opfer

wenn es sie nicht gäbe
wo es sie nicht gibt
weil es sie nicht gäbe
wenn es sie nicht gibt

nicht auf diese weise
weil es die nicht gibt
die es so nicht gäbe
und nicht anders gibt

weil wenn es sie gäbe
da es sie nicht gibt
es sie nur so gäbe
die es so nicht gibt

nicht auf diese weise
nicht in diesem sinn
wo es vieles gäbe
und es viel nicht gibt

weil sie dies nicht gäbe
weil es dies nicht gibt
weil es diese weise
nie auf diese gibt


Oskar Pastior,
sie ißt den leiermann, aus: gimpelschneise in die Winterreise – Texte von Wilhelm Müller