Und noch ein Text zum Thema „Vergessen“

Johannes Bobrowski:

Holunderblüte

Es kommt Babel, Isaak. Er sagt: Bei dem Pogrom, als ich Kind war, meiner Taube riß man den Kopf ab.
Häuser in hölzerner Straße, mit Zäunen, darüber Holunder. Weiß gescheuert die Schwelle, die kleine Treppe hinab – Damals, weißt du, die Blutspur.
Leute, ihr redet: Vergessen – Es kommen die jungen Menschen, ihr Lachen wie Büsche Holunders. Leute, es möcht der Holunder sterben an eurer Vergeßlichkeit.
das Vergessen der Welt, nicht das Vergessen des Dichters

Marcel Reich-Ranicki:

Wie immer, die Vergeßlichkeit ist ein Gift. Sie verkleinert das Territorium der Erinnerung. Sie ist auch ein Angriff auf die Dichtung selbst, auf das Gedicht. Wenn Erinnern ist, was vom Vergessen bleibt, dann ist es das Geschriebene, das Fixierte, welches letztlich vom Erinnern bleibt. Gute Gedichte sind ein Gegengift gegen das Vergessen. Das will uns Bobrowski sagen, wie Issaak Babel ein Ästhet inmitten der Barbarei, wie er ein Erinnerer inmitten von Gedankenlosigkeit und Lethargie.

FAZ vom 16.08.2003