Ein großer Mann, ein großes Leben

Reich-Ranicki: Notwendige GeschichtenMarcel Reich-Ranicki lebt nicht mehr.

Er hat mich Lesen gelehrt. Nicht die Technik, das Entziffern der Buchstaben, nein das Lesen der Worte. Literatur lehrte er mich, nicht meine Lehrer. Eines der ersten Bücher, das ich mir von meinem Taschengeld gekauft habe, war „Notwendige Geschichten 1933-1945“.  Piper, 1967

In dieser Anthologie, heute noch eingeschlagen im Folien-Umschlag von damals, versammelt er jahresweise Geschichten aus der dunklen Zeit Deutschlands, Geschichten von Autoren der verschiedensten Standpunkte, Geschichten, die zu lesen notwendig war und ist. Um die Zeit verstehen zu können, das Leben verstehen zu können.

Viele Geschichten aus diesem Buch sind mir noch gegenwärtig, viele vergessen. In einem alten SPIEGEL-Artikel von 1967 bespricht einer der Autoren, Albrecht Goes, diese Sammlung. Wie schrieb man damals? fragt er.

„Notwendige Geschichten“ — ein gutes Buch. Freilich, bis zu Hölderlins „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ werde ich mich bei seiner Betrachtung nicht versteigen; jenes Wort ist ja auch keine Maxime, sondern der Atemzug eines Ertrinkenden. Soll ich sagen: es sei etwas wie ein Beispiel, dieses Buch? Oder: es sei eine Warnung? Eine Warnung, gewiß. Aber wer will sich schon durch Bücher warnen lassen?

Reich-Ranicki war mein Cicerone in die Literatur, lange bevor er als Person auf den Bildschirmen erschien, lange bevor es das Literarische Quartett gab. Ich las die von ihm empfohlenen Autoren, hörte seine Beiträge im Hessischen Rundfunk, las die Frankfurter Anthologie der FAZ und wenn ich heute darüber nachdenke, kommt mir fast der Gedanke, er habe mich zum Studium der Germanistik, der Literaturwissenschaft, gebracht, nicht meine Mutter mit ihrem Bücherschrank voller Klassiker und den ehemals verbotenen Büchern in der 2. Reihe darin.

Durch ihn kam ich von Stefan Zweig zu Arnold Zweig, der lag mir eher.
Von Thomas Mann zu Heinrich Mann, der paßte mir auch besser.
Sicherlich lenkte er mich zu Koeppen.
Trotz seiner Antipathie Musil gegenüber quälte ich mich durch den Mann ohne Eigenschaften, dem Studium geschuldet. Aber daß ich den M.o.E. nicht mochte, war sicherlich nicht zu 100 Prozent mein eigenes Urteil.

Das Literarische Quartett schaute ich mir nicht so gerne an, ich wollte lieber in Ruhe lesen, Primär- oder Sekundär-Literatur. Ich war ja auch nicht die Zielgruppe seiner Sendung. Ich war ja schon überzeugt.

Jetzt habe ich etliche Sendungen im TV gesehen, die zu seinem Nachruf wieder aus den Archiven geholt wurden. Und zu der Vertrautheit, die ich ihm gegenüber empfand, kam die Freude über seine Lebhaftigkeit, seine Direktheit. Wo andere in Tränen ausbrechen oder in Weinerlichkeit versinken, ging er mit „Na Ja“ zum nächsten Thema über, statt Betroffenheit forderte er von allen, die er erreichte, eigenständiges Denken und Urteilen.

Sein letztes öffentliches Urteil war wohl die Nicht-Annahme des Fernsehpreises vor einigen Jahren, eine spontane Entscheidung, die aus dem Entsetzen über die unglaubliche Banalität der Veranstaltung entstand und die er standhaft durchhielt.

Ich habe durch ihn Urteilen / Beurteilen gelernt, ich habe von ihm Literatur / Welten geschenkt bekommen, er hat meinen Lebensweg sicherlich mitbeeinflußt.

Mein ganzes Lese-Leben lang war er da.  Nun nicht mehr.